Noch knapp 40 Stunden (Anm. stimmt jetzt nicht mehr ganz, Großbritannien wählt morgen) bis zu den Wahlen, vorneweg der aktuelle Umfragestand nach YouGov: CON 35% (+1), LAB 27% (0), LIB 28% (-1). Die Tücken zu den Prozentpunkten liegen in der Wahlkreis-Umsetzung. Demnach fehlen den Tories nur noch 43 Sitze zur Absoluten (bei 282 Parlamentskandidaten in Siegerposition). Trotz weniger Gesamtstimmen kann Labour noch immer mit doppelt so vielen „Members of Parliament“ rechnen wie die Liberaldemokraten (Schlüssel: 325 MPs = 50%; weitere Erläuterungen zur Wahlarithmetik gibt es HIER und HIER).

Noch 40 Stunden, aber die „großen“ Scharmützel sind Geschichte. Bekennende Immigrationsbegrenzer fühlen sich bei David Cameron am ehesten zuhause, auch die Altwähler (die größte Wählergruppe) scheinen seit Gordon Browns BIGOTTGATE mehr Herz für die Tories zu haben. Brown erwies sich zwar beim Thema „Wirtschaft“ (Wahlsprengel Titanic) als einziger kompetent, nur liegen seine Sympathiewerte unter dem Boden. „Newcomer“ Nick Clegg punktet bei jenen Wahlberechtigten, die sich nach einem echten „Change“ sehnen. Was den LibDems das beste Ergebnis seit langem garantieren sollte.

Noch 40 Stunden – in denen es den Wahlkämpfern um die „marginals“ geht. Die Randbereiche, die „floating“ (treibenden) Wähler – also auch den Jungwähler, zu dem es keine Erfahrungswerte gibt. Weil sie erstmals zur Urne gehen.

Gestern hat der Door-to-Door-Wahlkampf auch in Winchester voll eingesetzt. Der Türschlitz ist mit Flugblättern verstopft, alle 30 Minuten klopft ein Aktivist an. Am eifrigsten die Young Britons Foundation (Tories), die mit der Angst des Jungwählers vor einem hängenden Parlament spekulieren (Flyers mit Big Ben in der Schlinge), natürlich eine Facebook-Kampagne unterhalten und auf Teufel-komm-raus twittern. Verständlich, in meiner Wahlheimat. Winchester (trotz meiner Zuwanderung die reichste Stadt Englands) hat Tory-Tradition, fühlt sich aber seit einem Tory-Fauxpas (siehe HIER) im Lager der LibDems heimisch.

Bekanntlich grassiert im (mehrheitlich jungen) Nerdlager seit wenigen Jahren das Credo „Egal was die Zeitungen sagen, wichtig sind Blogworld und Twitter“. Das stimmt nur zum Teil. Denn wahr ist auch, dass der Jungwähler zunehmend Randgruppe ist. Die Gesamtzahl der Erstwähler nimmt von Wahl zu Wahl ebenso ab wie die Gesamtzahl der Altwähler zunimmt. Yes, die Bevölkerungspyramide. Meine Familie bildet eine krasse Ausnahme, hier gibt es gleich zwei Erstwähler. Beide informieren sich vorwiegend online, beide lesen meines Wissens zumindest einen Blog (zib21), beide sind bei Facebook, beide gehen am Donnerstag wählen.

Aber keiner der beiden ist „floating“. Sie wissen, was sie wollen. Das ist, erstens, NICHT David Cameron als Prime Minister, zweitens ein Winchester ohne Tories an der Macht.

Der Jüngere ist in seinen letzten College-Wochen, gerade ins wahlfähige Alter geraten und in Sachen Meinungsbildung vorwiegend instinktiv unterwegs. Er sah sich etwa die dritte TV-Debatte der drei Parteibosse an und fühlte sich im wesentlichen in dem bestätigt, was er „ohnehin dachte“. Erstens: „I hate Cameron“. Zweitens scheint „Brown wirtschaftlich kompetent (zu sein), nur hat er ständig Pech“. Bleiben also, drittens, in Winchester nur die Liberaldemokraten als wählbare Alternative. Was stimmt, wenn man den Tories nicht nützen will. Nicht einmal Parteimitglieder wählen in Winchester Labour. Weil Labour hier keine Chance hat.

Der Ältere steht vor dem Abschluss auf der Uni Edinburgh. An sich Brown-Country, der junge Gordon war dort Rektor. Allerdings verlor Brown wegen „Bigottgate“ seinen Respekt: „Weil er sich bei der Frau entschuldigt hat. Sie ist ja bigott.“

Auch bei den Uni-Debatten der lokalen Kandidaten gefiel dem Älteren der Labour-Kandidat nicht sonderlich: „Er vermied viele Fragen, antwortete immer mit Statistiken, die mit den Fragen wenig zu tun hatten.“ Das Fazit: „Der LibDem-Kandidat und der Repräsentant der Grünen waren die Charismatiker“. Leider haben die Grünen nirgendwo eine Chance – und werden daher von vornherein nicht gewählt.

Das heißt für den Älteren: „Ich bin ein LibDem-Mann“. Vor allem, weil bei den Wahlprogrammen der Parteien nur die LibDems Punkte im Programm hatten, die nicht nur „spekulativ“ waren sondern auch idealistischen Content hatten. Erstens „die Robin Hood-Steuer“ (Besteuerung der Profite der Banken). Zweitens „der Verzicht auf Trident“ (der nukleare Abwehrschild des United Kingdoms). Und natürlich freie Universitätsausbildung. „Labour will die Studiumskosten jetzt auf £ 5000.- pro Jahr und Kopf erhöhen und das dafür notwendige Schema der Studentenkredite an eine Bank verkaufen.“ (der Ältere) Und last, but not least, ist ihm auch der Digital Reform Act zuwider, der Film – und Musikfirmen legale Mittel in die Hand gegeben hat, diverse Internet-Freeloaders gerichtlich zu verfolgen.

Soweit zwei Jungwähler. Wobei der Ältere der beiden den Wahlausgang entmutigend sieht: „Die einzige Partei, die wirklich einen Wandel will, hat wegen des Wahlsystems keine Mehrheits-Chancen. Ich vermute daher eine Labour-LibDem-Koalition, und Nick Clegg wird dann all seine Wahlversprechen verkaufen – im Austausch gegen Etablieren eines gerechteren Wahlsystems. Damit die LibDems bei den nächsten Wahlen in fünf Jahren bessere Chancen haben. Nur hat das Labour schon 1997 versprochen und nicht gehalten.“

Ein Nachtrag zu Twitter und Blogworld. Die mit Abstand einflussreichste InsulanerIn in diesen Zonen ist der Schauspieler Stephen Fry, auch mein Älterer ist glühender Fan. Fry hat einskommafünf Millionen Twitter-Followers, sich in Sachen Wahlkampf aber erstaunlich diskret verhalten. Bis heute. Heute postete er auf seiner Website ein üppiges und extrem empfehlenswertes Essay des Titels „Wie ich wählen werde“, in welchem er für alle drei Großparteien wirbt, wenn auch für eine nur halbherzig.

Fry ist in einer Tory-Familie aufgewachsen, wurde in den Thatcherjahren Labour-Aktivist und ist heute „bekennender floating voter“ – der sich bei den wahlrelevanten Fragen jenem berühmten Spruch Bill Clintons anschließt, der diesem die US-Präsidentschaft 1992 gewann: „It´s the economy, stupid“.

Nach den Wahlen, schreibt Fry, werden wir finanziell „in sechs verschiedenen Stellungen gebumst, egal wer an der Macht ist. Es wird drastische Einsparungen geben und jene, die es sich am wenigsten leisten können, wird es besonders treffen.“ Das Thema Wirtschaft sei daher das Thema Nummer Eins. Mit Abstand.

Fry machte sich auch die Liebesmüh, in wunderbar knappen Worten zu skizzieren, wie ein Politiker auszusehen habe, der diese massiven wirtschaftlichen Probleme gerade noch meistern könnte. Und legte einen trefflichen Steckbrief Gordon Browns hin, ohne ihn beim Namen zu nennen. Zur Erwähnung kamen nur die Tories: „Niemand kann allen Ernstes glauben, dass ein Team Cameron/(Osborne (George Osborne, der prospektive Finanzminister, Anm.) wirtschaftlich kompetent ist.“ Ein simples Statement, das jeder, der die Weisheiten von David Cameron auch nur eine Minute lang genoss, bedenkenlos unterschreiben würde (Stichwort: THICK). Worauf Fry eine Wahlempfehlung anschloss, die man anderswo auch in Zen-Wälzern finden könnte:

„Truthähne würden nie pro Weihnachten wählen.“

Zum aktuellen Zwischenstand (4.5.) im Wahlkampf laut online-Umfrageriesen YouGov:

CON 35% (+1), LAB 27% (0), LIB 28% (-1) Prognose: Hung Parliament

Noch zwei Prozentpunkte mehr, und Cameron kann sich auf die Adresse „10, Downing Street“ einstellen. Andererseits: Sollte Fry recht haben – und wirtschaftliche Kompetenz den Wahlausschlag geben –, dann wäre ein Umschwung quasi über Nacht möglich und Brown noch nicht geschlagen. Und was ist mit den Kleinparteien? Wird es erstmals in Englands Geschichte einen grünen Parlamentarier geben? Davon morgen.

PS. Folgend der Videoclip zweier Rapper für die LibDems: The Cleggs.

Manfred Sax lebt in Winchester (UK) und ist Journalist und Mitbegründer des Blogs zib21.com, wo er ein Tagebuch über den aktuellen Wahlkampf führt

Foto: Double Speak Media, CC2.0 BY-SA-NC

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