lichtung

manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum

(Ernst Jandl)

Diese Woche las ich den Artikel „Wirtschafts(-wissenschaft) als Religion?„. Der ist eine Kritik an der derzeitigen Austeritypolitik, am Glauben vieler Neoliberaler an die Zwangsläufigkeit bestimmter Konsequenzen gewisser wirtschaftlicher Maßnahmen und an den Mainstream-Medien, die neoliberale Orthodoxien „wie eine „Religion“ herunterleiern“.

Der Artikel gab mir zu denken: Gibt es Ähnlichkeiten in Methodik, Rhetorik und Ideologie zwischen religiösen Sektierern und „Free Market“-Ideologen?

Neoliberale Theoretiker, Politiker und Journalisten plädieren für die größtmögliche Freiheit des Marktes und den geringstmöglichen Einfluss des Staates, den sie zum Feindbild erklären. Sie meinen, die Weltwirtschaft präzis mit wissenschaftlichen Methoden erklären und deren Entwicklung genau voraussagen zu können. Sie sind absolut von der Richtigkeit ihrer Theorien überzeugt.

Was ist das Wesen religiöser Sekten? Sie haben einen Gott und/oder eine mythisierte Führungsfigur, zu der man aufschauen kann. Ihre Lehre ist natürlich absolut und fehlerfrei, weshalb sie nicht hinterfragt werden darf. Außerdem ist ihre Sicht der Welt die einzig richtige, ihr Umfeld das einzig akzeptable. Welterklärungen werden möglichst vereinfacht und für die Bevölkerung in ansprechender, verständlicher und mitunter spannender Form transportiert:

Gleichnisse und Horrorgeschichten in der Bibel, Wachturmhefte mit Geschichten und bunten Bildern bei den Zeugen Jehovas, das Buch Mormon, oder sogar als Schund-Science-Fiction-Roman des Scientology-Gründers L. Ron Hubbards „Battlefield Earth“ (der übrigens zusammen mit dem literarisch ähnlich hochstehenden Kapitalismusroman „Atlas Shrugged“ zu den Lieblingsbüchern der neoliberalen Polithoffnung Mitt Romney zählt).

Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Methoden der religiösen Sektierern denen der Neoliberalen stark ähneln:

Sowohl Neoliberale als auch fundamentalistische Sekten erklären komplexe Strukturen. Sie stoßen dabei auf Grenzen und bedienen sich des Übersinnlichen, um die Thesen abzurunden, die Lücken zu füllen, das Unerklärbare zu erklären. Sekten haben ihren Gott als allmächtigen Lenker, in dessen Werk nicht eingegriffen werden darf, Neoliberale die ebenso unantastbare „Unsichtbare Hand“, die für das Gleichgewicht der Welt sorgt.

Vergleicht man Monetarismus mit Dianetics von Scientology fällt auf, dass bei beiden Theorien ein wissenschaftliches Fundament besteht, dass einfach nach Gutdünken erweitert, interpretiert und abgeändert wird, bis es in das eigene Konzept passt. Beide stellen einen wissenschaftlichen Anspruch, bauen aber in Wirklichkeit nur ein pseudowissenschaftliches Kartenhaus.

Bei allen Sekten wie beim Neoliberalismus gilt die eigene Klientel als die einzig relevante, alle Andersdenkenden werden als Häretiker abgestempelt. Eine der vornehmsten Aufgaben ist es, solche irrenden Häretiker zu bekehren, ganz egal, wie abstrus das in Anbetracht des sozialen, historischen und wirtschaftlichen Umfelds der zu missionierenden Ungläubigen ist (Beispiel: weniger Steuern und weniger Sozialleistungen sind, so die neoliberale These, selbstverständlich für alle – einschließlich der auf staatliche Leistungen Angewiesenen – gut, weshalb alle das gefälligst auch gut finden zu haben, obwohl von Steuersenkungen nur eine relativ wohlhabende Bevölkerungsschicht profitiert).

Ähnlichkeiten zwischen Religionen und Neoliberalen zeigen sich auch in der Wortwahl. Man spricht gerne in plakativen Gleichnissen. Als Beispiel Andreas Unterberger:

„Es ist eine absurde Kontroverse, die da derzeit tobt: Wachsen oder Sparen? Jene, die die unfinanzierbar gewordene europäische Schuldenexplosion verursacht haben, agitieren nun gegen die (ohnedies nur in einer kleinen Reduktion der Neuverschuldung bestehenden) Sparversuche. Sie wollen die Schuldenkrise durch noch viel mehr Schulden bekämpfen. Wie ein Rauschgiftsüchtiger möchten sie die Schmerzen des Entzugs mit neuem Rauschgift loswerden. Neues Gift verdrängt ja kurzfristig tatsächlich die Probleme. Dass diese dann später umso schlimmer und mit häufig letalen Folgen auftreten, ist im Augenblick egal.“

Man zeigt auch gerne Untergangsszenarien auf, aus denen ein unbeschadeter Ausstieg nur möglich ist, wenn den gepredigten Thesen minutiös nachgekommen wird. Das kann der Weltuntergang und die Apokalypse auf der einen Seite oder der Untergang des Euro oder gar der Demokratie auf der anderen Seite sein.

Wichtigste Gemeinsamkeit ist aber: Die Realität kann die Richtigkeit der Dogmen niemals widerlegen. Evolutionsbiologie und Genetik erklären mit fundiert wissenschaftlichen Methoden (theoretisch und empirisch), warum Schöpfung und unbefleckte Empfängnis nicht möglich sind. Religiöse Sekten negieren das schlichtweg oder schütteln sich hanebüchene Theorien wie „Intelligent Design“ aus dem Ärmel, die mit der eigenen Ideologie konform gehen und von denen sie einfach behaupten, sie wären wissenschaftlich zustande gekommen. Neoliberale konnten jetzt jahrelang beobachten, dass das Bekämpfen der Krise durch die von ihnen geforderte Sparpolitik viele Länder in eine noch tiefere Rezession gestürzt hat. Dennoch halten sie eisern an weiteren Sparmaßnahmen fest.

Das Scheitern der eigenen Maßnahmen kann nie auf einem Fehler der Dogmen beruhen, sondern liegt immer nur daran, dass die gescheiterten Maßnahmen nicht radikal genug, nicht lange genug, nicht intensiv genug durchgeführt wurden.

Tony Judt beschriebt dieses Phänomen in The Memory Chalet:

A top engineer was sent by his king in 1830 to observe the trials of George Stephenson’s Rocket on the newly opened Manchester-Liverpool railway line. The Frenchman sat by the track taking copious notes as the sturdy little engine faultlessly pulled the world’s first railway train back and forth between the two cities. After conscientiously calculating what he has just observed, he reported his finds back to Paris: “The thing is impossible”, he wrote. “It cannot work.”

Religiöser Wahn und Neoliberalismus stehen sich in Inflexibilität und Glaubensfixiertheit in nichts nach.

Das eigentliche Problem daran ist, dass die neoliberalen Fundamentalisten den Diskurs beherrschen. Die jetzige Wirtschaftkrise wird man nur durch die Fähigkeit, aus den bisherigen Ereignissen die richtigen Schlüsse zu ziehen, und flexibel und pragmatisch zu reagieren, bewältigen können.

Und nicht mit einem Ja und Amen zu neuen Kreuzzügen, die die Verwüstung der Welt in Kauf nehmen, um ein zukünftiges marktwirtschaftliches Paradies zu schaffen.

Karin Koller ist eine malende und schreibende Hausfrau und Mutter von drei Kindern. Die gelernte Biochemikerin hat auch ihren eigenen Blog und ist auf Twitter.

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