Die Bilder der vergangenen Wochen lassen keinen Zweifel: Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was in einer Demokratie erlaubt ist, und dem, was der türkische Staat derzeit gegenüber Demonstranten im Streit um die Verbauung eines Parks in Istanbul tut. Die Exekutive attackiert unter Führung der Regierung großteils friedliche Demonstranten.

Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind im Großen und Ganzen trotz manch bedenklich Entwicklung demokratisch. Sie beanspruchen die damit einhergehenden Werte auch international voranzutreiben. Das gilt insbesondere für den EU-Erweiterungsprozess, der ja irgendwann auch die Türkei integrieren sollte. Dementsprechend würde zumindest ich auch eine klare Sprache gegenüber der Regierung von Premierminister Recep Tayyip Erdogan erwarten. Doch Vertreter vieler europäischer Institutionen und Mitgliedsstaaten zögern mit einer harschen Verurteilung von Erdogans Vorgangsweise. Kritik kommt nur tröpfchenweise und vorsichtig. Auf einen gemeinsamen Standpunkt als EU scheint man sich nicht verständigen zu können oder wollen.

Dahinter mögen unterschiedliche Meinugen oder strategische und wirtschaftliche Interessen stecken, aber auch ein moralisches Dilemma. Denn es hat auch in europäischen Staaten vergleichbare Vorfälle gegeben hat. Man denke zum Beispiel an die Zerschlagung des Bergarbeiteraufstands in Großbritannien 1984, die G8-Proteste in Genua 2001 oder in jünerer Vergangenheit der Umgang mit den Protesten gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 in Deutschland, mit den griechischen Proteste gegen die Austeritärspolitik oder auch den Jugendprotesten in Spanien.

Es gibt neben prominenten Beispielen immer wieder unverhältnismäßge Polizeigewalt in kleinerem Maßstab gegen Demonstranten (auch in Österreich), die von den Regierungen und Exekutive meist unentschuldigt bleiben und dadurch still bestätigt werden. Dieses Dilemma, den reinen moralischen Anspruch selbst zu verfehlen, mag für konkrete Regierungen ein Problem sein. Solange sie sich von eigenen Missständen nicht lossagen, müssen sie eine Schmälerung der Soft Power der EU hinnehmen.

Europäische Werte sind Ziele

Wir als Bürger Europas sollten uns jedoch nicht auf die gefährliche Rutschbahn einlassen, einen Verstoß zu übersehen oder mit einem anderen zu relativieren. Ein Staat ohne Gewalt und Tyrannei ist trotz mancher Verfehlungen eine Idee. an der es sich für Europa festzuhalten lohnt. Können sich Regierungen durchmogeln, wenn sie bereits Mitglied in der EU sind (oder wurde dieser Maßstab in der Vergangenheit zu lasch behandelt), muss man daran arbeiten. Doch verfehlte Ansprüche bestehender Mitglieder erlauben Beitritts-Anwärtern nicht von Haus aus, diese Grundprinzipien mit Füßen treten.

Mit dieser Haltung mag ein Doppelstandard verbunden sein, aber das einzig legitime Ziel ist die Verbesserung des Niveaus von Rechtsstaat und Freiheit in der EU, nicht diese nach unten zu nivellieren. Demokratische Grundregeln und -bedingungen bleiben ungeachtet dessen unverändert, wo überall gegen sie verstoßen wird. Mit Tränengas, Knüppel und Wasserwerfer auf friedliche Demonstranten loszugehen, steht nicht in der Betriebsanleitung. Wer das nicht versteht, hat in EU-Gremien nichts verloren.

Was in der Türkei derzeit passiert macht wieder einmal klar: Die Türkei ist immer noch weit von einer EU-Reife entfernt. Muss man den ganzen Beitrittsprozess deshalb für immer beenden? Nein. Ob eine Aufnahme stattfinden kann, war und bleibt pragmatisch zu beantworten. Die Fragen dazu haben sich nicht geändert: Ergibt es Sinn? Ist die EU institutionell für einen so großen neuen Staat bereit? Und entwickelt sich die Türkei zu einem Staat, der mit den aufgeklärten europäischen (Ideal-)Vorstellungen von Politik und Recht ausreichend kompatibel ist?

Nun ein kategorisches Nein auszusprechen, würde bedeuten, nicht nur die Regierung Erdogan, sondern auch die Menschen im Gezi-Park und andere progressive Gruppen auszusperren. Und die trifft das härter als ihren Gegner. Mit welcher Verachtung Erdogan die Verurteilung seiner Vorgehensweise durch das Europäische Parlament erwiderte zeigt: Der EU zu gefallen, ist für ihn keine Priorität mehr. Die zufälligerweise gerade jetzt anstehende Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen ist eher ein innenpolitisch lohnendes Spiel(und dass die EU die Türkei mindestens genauso brauche, wie umgekehrt, war schon länger sein Spin).

Wegstoßen bedeutet Machtabgabe

Als Erdogan 2002 an die Macht gewählt wurde, galt er zwar als EU-Befürworter und leitete auch Reformen ein, die 2005 zur Aufnahme offizieller Verhandlungen führten. Dieses Verhältnis kühlte in den vergangenen Jahren allerdings wieder ab und eine Folge der immer schleppenderen und zuletzt jahrelang gestoptten Verhandlungen war ein reaktionärer politischer Backlash. Dabei spielt wohl auch die immer wieder geäßerte Ablehnung der türkischen Vollmitgliedschaft durch österreichische, deutsche und andere europäische Politiker eine Rolle. Sie trübten die türkische Perspektive und machten Anstrengungen deshalb weniger lohnenswert.

Den Prozess nun endgültig abzubrechen, würde neben unabsehbaren geopolitischen Konsequenzen auch die Aufgabe der Mitgestaltung in der Türkei bedeuten, die dort nicht zu paradiesischen Zuständen aber doch deutlichen grundrechtlichen und ökonomischen Verbesserungen geführt hat (und zudem hilft, den Zypern-Konflikt zu limitieren).

Einige europäische Politiker, derunter Österreichs Außenminister Michael Spindelegger, sprechen sich alternativ dafür aus, gerade jetzt über die Grundrechtsmaßnahmen mit der Türkei zu verhandeln. Das ist eine nachvollziehbare Idee. Es stellt sich jedoch die Frage, ob weiteren Verhandlungen eine Berichtigung der aktuelllen Vorfälle vorausgehen muss, welche die Regierung Erdogan weder leisten kann noch will.

Eventuell sollte man auf Zeit spielen und die Entscheidung über die weitere Marschrichtung der Türkei ganz anderen überlassen, als dem auf absehbare Zeit untragbaren Erdogan: Nämlich dem mehrheitlich pro-europäischen türkischen Volk bei seinen nächsten Wahlen (auch wenn die Alternativen nicht begeistern). Aus diesem stammen übrigens auch die Premierminister der Zukunft.

Foto: Alan Hilditch, CC 2.0 BY

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