Knapp ein Monat nach dem Rücktritt von Tschechiens Ministerpräsidenten Petr Nečas trat am Mittwoch, 10. Juli, ein weiterer Politiker wegen eines Geheimdienstskandals zurück. Jean-Claude Juncker, seit 30 Jahren in der Regierung und seit 18 Jahren Premierminister Luxemburgs hat am Mittwoch nach einer siebenstündigen Parlamentssitzung vor einer Abstimmung über einen Misstrauensantrag den Stecker gezogen und Neuwahlen angekündigt.

Bereits Mitte Juni stand die Koaltion der christlich-sozialen CSV und sozialdemokratischen LSAP auf der Kippe. Die Vorwürfe gegen Finanzminister Luc Frieden, er habe sich während seiner Zeit als Justizminister in laufende Ermittelungen eingemischt, hatten der LSAP nicht ausgereicht, um die Koalition aufzukündigen. Damals ging es wie auch am Mittwoch um eine verworrene und vielschichtige Affaire, die bis in die 1980er Jahre zurückreicht.

1984 und 1985 wurden 18 Bombenanschläge in Luxemburg verübt, bei denen direkt niemand getötet wurde. Diese Anschläge sind als “Bombenlegeraffäre”, Affär Bommeleeër oder einfach “de Bommeleeër” bekannt geworden und wurden bis heute nicht aufgeklärt. Seit Februar 2013 läuft ein Prozess gegen zwei Polizisten, die mit zwei inzwischen verstorbenen Kollegen als Mitglieder eines Sondereinsatzkommandos die Anschläge verübt haben sollen. Wie weit der luxemburgische Geheimdienst und/oder der luxemburgische Arm von “Stay behind” in die Attentate verwickelt waren oder sie gar gänzlich geplant und ausgeführt haben, ist Gegenstand von Spekulationen. Die Ermittelungen zu dieser „Staatsaffaire“ soll Luc Frieden behindert haben.

Untersuchungsausschuss mit erschütternden Ergebnissen

Anlass für den Rücktritt war jedoch der Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission über den luxemburgischen Geheimdienst SREL (Service de renseignement de l’État – wörtlich: „Auskunftsdienst des Staates“). Nachdem im November 2012 bekannt wurde, dass der damalige SREL-Chef Marco Mille (heute Sicherheitschef bei Siemens) den Premierminister und damit seinen politischen Vorgesetzten Jean-Claude Juncker mittels einer Spionageuhr aufgenommen hatte, wurde im Dezember eine parlamentarische Untersuchungskommission eingerichtet, die seitdem – oft genug nach Leaks in der luxemburgischen Presse – beinahe täglich mehr kuriose und erschütternde Tätigkeiten des Geheimdienstes zu Tage bringt:

Innenpolitische Spionage, unter anderen gegen Studierendenorganisationen, Umweltschutzorganisationen und alternativen Medien, ein geheimes Archiv, von dem selbst der Premierminister nichts wusste, Verkäufe von Luxusautos des Geheimdienstes, illegale Abhöraktionen auf In- und Ausländer_innen, der Versuch, eine Gruppe der “Geheimdienste der kleinen Länder Europas” zu gründen, angebliche illegale Aufnahmen von Gesprächen zwischen Jean-Claude Juncker und dem Großherzog, Terrorabwehrmissionen im Irak und auf Kuba, die sich spontan in “Wirtschaftsmissionen” verwandeln und eine Ermittelung gegen Generalstaatsanwalt Robert Biever wegen Pädophile, was de-facto bedeutet dass der SREL – ob eigenmächtig oder im Auftrag eines anderen – zumindest über eine gewisse Zeit hinweg eine Geheimpolizei gebildet hat und seinen legalen Rahmen weit überschritten hat.

Bombenlegeraffäre

Auch Verstrickungen zur Bombenlegeraffäre gibt es mehre: der SREL soll bei einer versuchten Geldübergabe dabei gewesen sein, er hat 125 Beweisstücke an FBI und CIA weitergeleitet, von denen 86 nicht mehr aufgetaucht sind, er soll während den Attentaten den Chef der Gendarmerie abgehört haben und illegal Polizeibeamte nach Dienstschluss für sich “Überstunden” haben machen lassen. Der Generalstaatsanwalt Robert Biever hat im Bommeleeër-Prozess ausgesagt, er (und andere Mitglieder des Justizapparates) sei vom SREL (bzw. von von diesem angeheuerten Privatdetektiven) während den Ermittlungen zum Bommeleeër in Jahren 2006/2007 überwacht worden.

Der Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission hat 141 Seiten, der Berichterstatter (und Grünen-Fraktionschef) Francois Bausch musste sehr schnell sprechen, um ihn auch nur ansatzweise in der Stunde Redezeit, die ihm zustand, zusammenzufassen.

Juncker verteidigte sich zwei Stunden lang im Parlament. Der Anfang der Rede war dabei fast wortgleich mit einer Pressekonferenz, die er Ende 2012 kurz nach Bekanntwerden der Spionageuhr-Aufnahme gab. Die Grundaussage: Juncker wusste von nichts oder die Hände waren ihm zum Wohle der Nation gebunden gewesen. Dass er Mille nicht sofort angezeigt hat, begründete er damit, dass so ein Vorgehen ein Vertrauensverlust von befreundeten Geheimdiensten mit sich gebracht hätte, was Luxemburg von wichtigen Informationen abgeschnitten hätte. Im gleichen Atemzug berichtete er anklagend, dass dieses Bedrohungsszenario nun – durch die öffentliche Aufklärung der Verfehlungen des SRELs – eingetreten sei.

Drei oder vier, fünf oder sechs

Am Ende seiner Verteidigungsrede gestand er Fehler ein, die er im gleichen Atemzug aber wieder relativierte – hatte er die Geheimdienstler anfangs noch als Paranoiker und Märchenerzähler_innen bezeichnet, so waren sie jetzt hohe, gut bezahlte Beamte, denen zu vertrauen selbstverständlich gewesen war. „Ist man denn objektiv verantwortlich, wenn zwei oder drei* Mitglieder von 60 Mitgliedern des Geheimdienstes sich fehlerhaft verhalten?“, fragte er und beantwortete die Frage gleich mit einem Nein (*Mitte Juni hatte Juncker die gleiche (in seinen Augen wohl rhetorische) Frage gestellt, da waren es allerdings noch 5 bis 6 Geheimdienstler gewesen).

Das Parlament sah das anders. Kurz bevor die Rücktrittaufforderungen gestimmt wurden meldete sich Juncker noch einmal zu Wort und kündigte an, am Donnerstag die Regierung zusammengerufen und den Großherzog um Neuwahlen zu bitten.

Ein schlauer Schachzug. Erstaunlich schnell beendete Parlamentspräsident Mosar (CSV) die Sitzung – ohne dass über einer der Anträge, die Junckers politische Verantwortung bekräftigten, abgestimmt wurde. Juncker entging so einer Demütigung durch das Parlament und konnte seine Koaltionspartnerin LSAP als Königsmörder hinstellen. Am Mittwochabend noch verkündete die CSV ihren neuen Wahlkampfslogan: „Mir mam Premier“ (Wir mit dem Premierminister), nur eine geringe Abwandlung des früheren Slogans „CSV. Déi mam Juncker“ (CSV. Die [Partei] mit Juncker.).

Opferhaltung

Die Marschrichtung für den Wahlkampf der Konservativen scheint klar: Juncker wurde Opfer politischer Intrigen und soll nun von seinem Volk wiedergewählt werden. Ob es sich im CSV-Wahlkampf um die vielbeschworenen „anderen Probleme des Landes“ drehen wird, bleibt fraglich. Das luxemburgische Wahlsystem ist stark auf Personenwahlkampf ausgelegt, es erlaubt nämlich, Kandidat_innen auf unterschiedlichen Wahllisten zu wählen (panaschieren http://de.wikipedia.org/wiki/Panaschieren) und Stimmen zu kumulieren (Spannende Gedankenspiele zum luxemburgischen Wahlsystem hat Meris Sehovic angestellt)

Die LSAP vollzieht zumindest einen Wechsel an der Spitze: bisheriger Frontmann und Außenminister Jean Asselborn wird von Wirtschaftsminister Etienne Schneider als Spitzenkandidat ersetzt. Die Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres, deren Reformversuche am Widerstand der Lehrer_innen gescheitert sind, wird nicht mehr antreten. Hier wird zumindest symbolisch ein Neuanfang versucht.

Die letzten Umfragewerte sind aus dem Frühjahr 2013 und bescheinigen sowohl CSV als auch LSAP milde Verluste, die aber noch für ein Aufrechterhalten der momentanen Koalition ausreichen würden. Die CSV könnte nach diesen Ergebnissen neben der LSAP auch die liberale DP oder die Grünen als Koalitionspartner wählen. Wenn sich die Ergebnisse einen Sitz gegen die CSV verschieben, wäre eine Dreierkoalition aus LSAP, DP und Grünen wohl möglich.

Luxemburgs demokratische Defizite

Es wäre die erste Regierung seit 1979 ohne Beteiligung der CSV – und die zweite seit dem Ende des zweiten Weltkrieges. Vielleicht könnte eine solche Koalition endlich einige demokratische Defizite in Luxemburg lösen: das System der Wahlbezirke, die Luxemburger_innen im Osten nur 7 Abgeordnete und Luxemburger_innen im Süden ganze 23 Abgeordnete wählen lassen und kleine Parteien massiv benachteiligen, reformieren und das Ausländer_innenwahlrecht überarbeiten. Über 40% der Einwohner_innen Luxemburgs dürfen nicht an den Parlamentswahlen teilnehmen, während für die restlichen 60% Luxemburger_innen Wahlpflicht besteht.

Einige Beobachter_innen deuteten die am Mittwoch vergleichsweise zahme Kritik der liberalen DP an Juncker als eine Bereitschaftsgeste für eine konservativ-liberale Koalition im Oktober. Gerade die Grünen und DP sind innerhalb des letzten Jahres vermehrt gemeinsam aufgetreten, um gegen Regierungsmisstände (davon gab mehr als nur den SREL, wie die Zeitschrift forum zusammengetragen hat.) aufzutreten. Wahrscheinlicher Spitzenkandidat ist der Bürgermeister von Luxemburg-Stadt, die in einer liberal-grünen Koalition regiert wird, Xavier Bettel. Er hat schon angedeutet, das Rathaus höchstens gegen den Posten des Premierministers verlassen zu wollen – ob das mit einer „Wir mit Juncker“-fixierten CSV möglich wäre, ist fraglich.

Die Grünen haben einen inhaltlichen Wahlkampf angekündigt und wollen sich nicht auf einen „Opferwahlkampf“ der CSV einlassen. Allerdings wollen sie ihr fertiges Wahlprogramm erst Mitte September, also knapp einen Monat vor dem vermutlichen Wahltermin am 20. Oktober, präsentieren. Als Berichterstatter der Untersuchungskommission wird ihr Fraktionschef Francois Bausch sicherlich bei einigen Geheimdienstkritiker_innen punkten können. Allerdings ist die Position der luxemburgischen Linken (déi Lénk) radikaler, denn sie fordern eine Abschaffung des Geheimdienstes, was wohl auch der Position der Piratenpartei entsprechen wird. Inwiefern die klassischen grünen Positionen in einem Land des billigen Sprits, SUVs und schier endlosen Vorstädten auch national fruchten können, bleibt zu sehen.

Gute Chancen auf das Bisherige

Ein Zugewinn der Linken scheint den Umfrageergebnissen nach möglich. Das heikle Thema Wohnraum, durch eine vor kurzem geräumte Besetzung wieder in der medialen Öffentlichkeit, bearbeitet die 1999 gegründete Partei schon seit längerem. Laut den letzten Umfragen darf sie auf einen oder zwei Sitze Zugewinn hoffen.

Die rechts-außen ADR („alternative demokratische Reformpartei“) hat sich im Laufe der letzten Legislaturperiode gespalten und hat nur noch 2 statt 4 Abgeordnete. Ob sie mit einem populistischen Wahlkampf à la FPÖ Stimmen machen kann (und überhaupt will) und ob die von einem nunmehr unabhängigen Ex-ADR Abgeordneten angekündigte „integrale Partei“ in dem gleichen Gewässer fischen wird, wird mal Erheiterung, mal Kopfschütteln unter den politikinteressierten Luxemburger_innen auslösen. Es bleibt zu hoffen, dass die ADR sich nicht weiter in die Richtung ihres homophoben, sexistischen und ultrakonservativen Abgeordneten Kartheiser bewegt.

Die Chancen stehen gar nicht so schlecht, dass es nach den Neuwahlen im Oktober lediglich zu einigen personellen Veränderungen kommt und die schwarz-rote Koalition Juncker weitere 5 Jahre Premierminister und damit Chef des SRELs macht. Allerdings wäre auch ein politischer Neustart für Luxemburg möglich – dann dürfen die progressiven Kräfte sich während des Wahlkampfes nicht gegenseitig zerfleischen und klar machen, dass es bei diesen Wahlen nicht wie sonst darum geht, welche Partei Koalitionspartnerin der CSV wird.

Zur weiteren Lektüre:

Jerry Weyer: Timeline über den luxemburgischen Geheimdienst SREL und seine Verfehlungen.
Mein Überblick über Geheimdienstskandal und “Bombenlegeraffaire”
Ein (einige Monate alter) Hintergrundartikel über Jean-Claude Junckers politische Karriere: Der Mann ohne Eigenschaften
Kommentar zu Junckers Verhalten: Anlauf statt Rücktritt

Ein Gastbeitrag von Joël Adami.

Fotocredit: European Council, CC2.0 BY-NC-ND

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