Ich weiß, ich bin spät dran. Die große Aufregung um die Kampagne Kony 2012 scheint längst wieder vorbei zu sein. Beginnend am 5. März verbreitete sich das Mobilisierungsvideo der NGO Invisible Children rasend schnell auf Twitter und Facebook, bald gefolgt von einem Sturm an Entrüstung und Kritik. Eine Auseinandersetzung mit dieser Kritik an Kony 2012 zeigt, dass sich der grundlegende Vorwurf – die vereinfachende Darstellung eines komplexen Problems – auch gegen viele der KritikerInnen richten lässt.
Es liegt wohl zum Teil im Medium begründet, dass nicht die vielschichtigen, komplexen Abhandlungen, sondern die knackigen – eben vereinfachenden – und polarisierenden Anschuldigungen die größte Aufmerksamkeit bekommen. Vermutlich auch weil erstere nicht innerhalb von Stunden aus dem Ärmel geschüttelt werden können, doch gerade die KritikerInnen von Kony 2012 hätten Werkzeuge zur Verfügung gehabt, um zur richtungweisenden Ausnahme zu werden.
So hat erst im vergangenen November die International Crisis Group einen zwanzigseitigen Bericht über die Lords Resistance Army (LRA) veröffentlicht – lang genug für die nötige Substanz, trotzdem kurz genug um tatsächlich gelesen zu werden. Dieser zeigt nicht nur, wo die Kritik an der Bewegung (siehe Box am Ende des Artikels) daneben greift, sondern füllt auch die Lücke, die Kony 2012 zweifellos lässt und liefert konkrete Vorschläge wie die LRA gestoppt werden könnte.
Der Bericht der Crisis Group
Nach dem Bericht der International Crisis Group ist Uganda zwar nicht mehr Schauplatz des Konflikts, bleibt aber ein entscheidender Akteur. Nach militärischen Erfolgen der ugandischen Armee, unterstützt durch die USA, und gescheiterten Friedensverhandlungen flüchtete Kony mit seiner LRA über die Grenze und agiert seitdem im Grenzgebiet zwischen dem Südsudan, der Demokratischen Republik Kongo (DRC) und der Zentralafrikanischen Republik (CAR). Die ugandische Armee verfolgt und bekämpft die LRA aber auch auf dem Territorium dieser Staaten.
Seit Ende 2010 plant die Afrikanische Union (AU) eine gemeinsame militärische Mission der vier betroffenen Länder gegen die LRA, die bisher aber an unterschiedlichen Interessen scheiterte: Das Engagement Ugandas hat mit der Verlagerung des Konfliktes aus ihrem Staatsgebiet abgenommen und ihrer Armee wird vorgeworfen, die Stationierung in den Nachbarstaaten dazu zu nutzen deren Ressourcen zu plündern. Aber auch für die Regierungen in der DRC und der Zentralafrikanischen Republik spielt Kony kaum eine Rolle, da er im Moment keine Bedrohung ihrer Machtbasen darstellt. Gemeinsam haben alle AkteurInnen, dass ihnen teils massive Menschenrechtsverletzungen und Gleichgültigkeit gegenüber der betroffenen Zivilbevölkerung vorgeworfen werden.
Die Empfehlungen der Crisis Group richten sich demnach sowohl an die lokalen Regierungen, als auch internationale Geberländer. Sie fordern eine starke, nachhaltige und transparente militärische Mission der drei betroffenen Staaten unter Koordination und Kontrolle der AU, die durch USA und EU finanziell unterstützt wird. Ziel soll nicht nur das „Stoppen“ Konys sein, sondern die Entmilitarisierung der LRA und des gesamten Gebiets und die Übergabe der Führungsriege der LRA an den Internationalen Strafgerichtshof (ICC).
Die Kampagne und ihre Kritik
Drei Kritikpunkte an Kony 2012 fanden in meinem Umfeld besonders starken Anklang: Erstens, die (unterstellte) Forderung nach einer militärischen Intervention durch die USA. Zweitens, die (zugegebene) Zusammenarbeit mit den lokalen Regierungen durch die NGO und drittens, der (vorgeworfene) neokolonialistische Ansatz des Videos.
Man verstehe mich nicht falsch, es gibt an der Kampagne vieles zu kritisieren: Ich hatte ein zwiespältiges Gefühl beim Ansehen – zu stark war das Gefühl manipuliert zu werden. Auch einige von jenen, die das Video als neokolonialistisch bewerten, bringen gute Argumente: die überwiegende Darstellung von AfrikanerInnen als untätige und hilflose Opfer, die Auslassung erfolgreicher lokaler Initiativen und der messianische Unterton. Davon abgesehen schien das Video aber bei mir einen fundamental anderen Eindruck zu hinterlassen, als bei den KritikerInnen.
Tatsächlich findet sich im Kampagnenvideo keine Forderung nach einer militärischen Intervention, die über die schon existierende Kooperation zwischen US-Militär und den lokalen Regierungen hinausgeht. Explizit wird lediglich gefordert den Druck aufrecht zu erhalten, damit diese Unterstützung nicht gestoppt wird (eine Gefahr, die auch im Bericht der Crisis Group betont wird). Invisible Children beschränkt sich fast ausschließlich auf die Bekanntmachung Konys, ohne konkrete Lösungsvorschläge zu formulieren. Das kann nun einerseits als unzulässige Vereinfachung kritisiert werden, andererseits lässt es aber Raum für einen Wettkampf unterschiedlicher Lösungen, deren Umsetzung durch die erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit unterstützt werden könnte. Der Bericht der Crisis Group legt zumindest nahe, dass öffentliche (auch internationale) Aufmerksamkeit sehr wohl von entscheidender Bedeutung ist.
Den Vorwurf mit fragwürdigen lokalen Regierungen zusammen zu arbeiten muss sich wohl so gut wie jede NGO irgendwann einmal gefallen lassen. In Verbindung mit Kolonialismuskritik stehen engagierte Menschen dann vor einem besonders großen Problem: Alle sind sich einig, dass die LRA gestoppt werden muss. Doch an wen wenden, wenn weder internationale noch lokale staatliche AkteurInnen dabei eine Rolle spielen dürfen? Man sollte dabei beachten, dass beispielsweise die ugandische Journalistin Rosebell Kagumire in ihrer oft zitierten Kritik tatsächlich die Lösung bei lokalen Initiativen und Regierungen verortet. Trotz der bekannt fragwürdigen Bilanz letzterer.
Eine Kritik der Kritik
Das Video zu Kony 2012 wurde inzwischen auf Facebook über 75 Millionen Mal angesehen. Das Ziel der erhöhten Aufmerksamkeit hat Invisible Children wohl zweifellos erreicht. Die KritikerInnen können vermutlich auf nicht ganz so viele Klicks verweisen, haben aber (bis jetzt) vor allem eine große Chance nicht genutzt: die öffentliche Aufmerksamkeit!
Die Kritik an fragwürdigen Aspekten solcher Initiativen ist notwendig und berechtigt. Sie sollte aber fair bleiben und sich vor einem verabsolutierten Antikolonialismus fernhalten, der dazu führt, dass jegliches grenzübergreifende Engagement als Einmischung verunglimpft wird. Vor allem aber sollte sie die entstehende Aufmerksamkeit auch positiv nutzen.
Anstatt sich ausschließlich auf die Unzulänglichkeiten der Kampagne Kony 2012 zu konzentrieren, könnten sie versuchen diese auszugleichen und die fehlenden Kontextinformationen zu liefern. Anstatt zu beklagen, dass lokale Initiativen im Video keine Rolle spielen, könnten sie existierende lokale Initiativen bekannt machen und einen Teil der kreierten Aufmerksamkeit für sie nutzen. Anstatt die (vermeintliche) Forderung nach einer US-Intervention zu kritisieren, könnten sie die internationale Aufmerksamkeit nutzen, um Druck auf die regionalen Regierungen und die AU aufzubauen.
Natürlich hängt der Erfolg solcher Strategien zu einem großen Teil von den EmpfängerInnen ab. Nur wenige, die es bis hierher geschafft haben, werden auch noch die zwanzig Seiten des Berichts der Crisis Group lesen. Wenn aber jeder kritische Blogbeitrag, Video-Podcast und Facebook-Kommentar zumindest einen Teil der wichtigen Kontextinformationen wiedergibt, wäre das vielleicht gar nicht notwendig.
Update: Ein interessanter Beitrag zu Kony 2012 auf ForeignAffairs.com spricht einen bisher überraschenderweise völlig untergegangenen Punkt an: Die Forderung einer US-BürgerInneninitiative an die Regierung dazu beizutragen einen ICC-Haftbefehl durchzusetzen, steht mit der Weigerung der USA dem Internationalen Strafgerichtshof beizutreten doch deutlich in Widerspruch. Es bleibt abzuwarten, ob dieser Aspekt weiter aufgegriffen wird. Ein weiterer Beitrag gibt zusätzliche Informationen was engagierte Menschen von zu Hause aus tun können.
Hintergrund: Die Kampagne
Das Ziel der Kampagne ist es, Joseph Kony berühmt zu machen. Möglichst viele Menschen sollen wissen wer er ist und welche Verbrechen er mit seiner LRA begangen hat. Denn dann, so die Idee, wären diese Menschen involviert und würden sich engagieren um Kony zu „stoppen“. Wie genau das passieren soll wird nicht ganz klar.Die vom Film zur Kampagne beworbenen Aktivitäten beschränken sich durchwegs auf die Bekanntmachung Konys: Es soll ein „Action-Kit“ erworben werden, das Flyer, Poster und T-Shirts enthält. Mit Spenden soll die Öffentlichkeitsarbeit von Invisible Children unterstützt werden. Politische und kulturelle „Meinungsmacher“ sollen dazu bewegt werden, sich der Bewegung anzuschließen und sie damit verstärken. Schließlich soll am 20. April überall in der (westlichen) Welt Konys Gesicht plakatiert werden.
Hintergrund: Die Kritik
KritikerInnen werfen der Kampagne vor eine komplexe Situation durch die Zuspitzung auf eine Person falsch darzustellen, wobei die Vorwürfe von verzerrender Vereinfachung bis möglicherweise bewusster Fehlinformation reichen. Sie sei manipulativ und neokolonialistisch und von der „Bürde des weißen Mannes“ angetrieben.Außerdem sei die dahinter stehende NGO Invisible Children mehr als fragwürdig und verwende nur einen Bruchteil der Spenden für wirkliche Entwicklungsarbeit in Uganda. Ihr wird vorgeworfen eine Militärintervention durch die USA zu unterstützen. Manche KritikerInnen sehen dies als explizite Forderung des Videos, andere nur in der vereinfachten Darstellung des Problems impliziert, die zu einem ebenso einfachen Lösungsversuch führen müsse. Schließlich wird Invisible Children sowohl für Kooperation mit den lokalen Regierungen, als auch für mangelnde Kooperation mit den lokalen Regierungen kritisiert.
Die Organisation reagierte ihrerseits mit einem Artikel auf ihrer Webseite auf einige Vorwürfe.
Fotos: www.invisiblechildren.com