„Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.“ Jean Ziegler nimmt sich kein Blatt vor dem Mund seinen Unmut gegenüber der weltweiten Misslage kundzutun. Damit übertreibt er zwar erheblich und gefährdet eine sachliche Debatte, aber so ganz Unrecht hat er doch nicht.
Den jüngsten Schätzungen der FAO zufolge sind 868 Millionen Menschen auf der Welt chronisch unterernährt. Das Problem liegt aber nicht in der Knappheit von Nahrungsmitteln, denn die Produktion übertrifft die notwendige Menge zur Nahrungssicherung bei weitem. Insgesamt gibt es sogar mehr Übergewichtige als Hungerleidende auf der Welt. Diese extremen Unterschiede
können nur über zwei Argumentationslinien begründet werden: Entweder sind es die regionalen Eigenheiten, die einige Menschen übergewichtig und andere hungrig machen, oder es liegt an einer ungerechten Verteilung.
Wie Andreas richtigerweise angemerkt hat, ist Hunger ein vielschichtiges Problem und man kommt wohl kaum mit nur einer Argumentationslinie aus. Doch auch wenn es viele Gründe für den chronischen Hunger von Millionen Menschen geben mag, so hat sich im Laufe der Zeit das Gewicht der Argumente hin zum Hunger als Verteilungsproblem verschoben. Hier sind drei Gründe, warum Hunger nicht aus regionalen Besonderheiten, sondern aus dem westlichen Einfluss und damit einer ungerechten Verteilung resultiert:
Grund Nr. 1: Ausländische Interventionen
Aus geschichtlicher Perspektive macht es Sinn mit dem ältesten Phänomen zu beginnen: der Kolonialisierung. Mit der Plünderung der Ressourcen und der Versklavung der Menschen über Jahrhunderte hinweg, wurde in den Ländern des Südens ein politisches und kulturelles Chaos hinterlassen. Durch die Ziehung von imaginären Landesgrenzen und der Besetzung der politischen Posten durch die Kolonialherren konnten sich kaum Institutionen entwickeln, die eine wirtschaftliche Entwicklung begünstigen könnten. In vielen Ländern herrschen nach wie vor Diktatoren, grassierende Korruption und aufgeblasene Militärs. Demgegenüber stehen unzählige Gruppierungen mit unterschiedlichen Kulturen. Unter solchen Bedingungen ist es nahezu unmöglich Steuern einzuziehen und die Eigentumsrechte zu gewähren.
Doch die westlichen Eingriffe in die Souveränität südlicher Staaten sind auch nach der nationalen Unabhängigkeit noch vorhanden. Wahlen werden manipuliert, Waffen exportiert, es wird Druck auf nationale Gesetze zur Begünstigung von multinationalen Konzernen gemacht und Unmengen an Land aufgekauft, um nur einige fatale Eingriffe in die Souveränität anderer Staaten zu nennen. Besonders direkt und offensichtlich ist aber der Druck auf die südlichen Staaten, der von den sogenannten Entwicklungsorganisationen, dem IWF und der Weltbank, ausgeht.
Mit der Drohung des Kreditentzugs als Peitsche wurden und werden die südlichen Länder zu tiefgreifenden Reformen gezwungen. Durch solchen Einfluss von außen werden die Zielländer nicht nur dem System des Freihandels und des Neoliberalismus angepasst, sondern auch die politischen Institutionen untergraben. Den Staaten wird ein vermeintlich universelles System aufgedrängt, das keine Rücksicht auf kulturelle und soziale Eigenheiten nimmt. Unter solchen Bedingungen ist es nahezu unmöglich eine funktionierende Demokratie mit einem nicht korrupten Staat zu etablieren.
Es wird aber nicht nur eingegriffen, sondern man schließt den Süden auch von der Weltpolitik aus. In G8 oder mittlerweile auch G20-Treffen wird Weltpolitik mit dem Ausschluss des Großteils der Bevölkerung gemacht und nicht einmal bei der Entscheidungsfindung in den internationalen Organisationen werden die südlichen Länder in gerechter Weise miteinbezogen. Damit wird eine Weltpolitik- und Wirtschaft im Sinne der südlichen Länder systematisch ausgeschlossen.
Grund Nr. 2: Unfaire Handelspraktiken
Wenn vom einem Verteilungsproblem gesprochen wird, dann geht es nicht um die Verteilung der vorhandenen Nahrungsmittel, sondern um die Verteilung der Nahrungsmittelproduktion. Bis in die Nachkriegszeit war Afrika ein Netto-Exporteur von Nahrungsmitteln. In den letzten 40-50 Jahren wurde der afrikanische Kontinent aber zu einem Nettoimporteur und damit noch abhängiger von anderen Ländern und von der Entwicklung der Lebensmittelpreise.
Im selben Zeitraum ist die Agrarproduktion in vielen afrikanischen Ländern stagniert oder sogar gesunken. Anstatt selbst zu produzieren und damit auch Einkommen zu generieren müssen die Länder des Südens die subventionierten Produkte aus dem Westen kaufen. Damit gelangen sie zwar teilweise zu günstigen Nahrungsmitteln, doch bei einem noch niedrigeren oder gar keinem Einkommen werden sogar die günstigsten Nahrungsmittel zu Luxusgütern.
Diese Entwicklung ist das Resultat der westlichen Agrarsubventionspolitik bei gleichzeitigem Druck zu Niedrigzöllen in den „Entwicklungsländern“. Solche unfaire Handelspraktiken geben den Kleinbauern keine Chance am Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein. Die Subventionen der Industriestaaten betragen das Siebenfache (!) ihrer Ausgaben für Entwicklungshilfe, womit diese zur Farce wird.
Grund Nr. 3: Lebensstil und Beeinflussung des Klimas
Der westliche Lebensstil hat nicht zu vernachlässigbare Konsequenzen für die Ärmsten der Armen. Unsere Essensgewohnheiten haben dabei ähnliche Konsequenzen wie der Konsum-Fetischismus im Allgemeinen. Mit dem Einkommen steigt der Fleischkonsum und damit überproportional unser ökologischer Fußabdruck. Um eine bestimmte Menge an Fleisch zu produzieren, muss viel mehr Land bearbeitet werden als es für dieselbe Menge an Gemüse oder Getreide notwendig ist.
Weil die Löhne und damit die Preise sehr viel niedriger sind, wird das Futter für die Tiere aus den südlichen Ländern importiert. Riesige Plantagen an Mais oder Soja werden damit angebaut um den Fleischkonsum im Westen zu ermöglichen. Flächen, die auch für die Eigenproduktion verwendet werden könnten. Ähnlich ist es bei der Produktion von Biomasse: dem Hunger im Süden steht der Energiehunger der Industriestaaten gegenüber.
Noch viel größere Konsequenzen hat aber die enorme Nachfrage nach Lebensmitteln, die vom Westen ausgeht. Angesichts dessen, dass wir die Hälfte aller Lebensmittel entsorgen, besteht ein Überschuss an Nachfrage, der zusammen mit unserer Kaufkraft die Weltpreise für Nahrungsgüter in die Höhe schießen lässt. Davon profitieren zwar die landwirtschaftlichen Produzenten des Südens, doch diese sind zumeist Großgrundbesitzer oder sogar multinationale Konzerne, die sich die Flächen aufgekauft haben (das genannte Landgrabbing). Während diese ohnehin nicht vom Hunger bedroht sind, treffen die Preissteigerungen die Ärmsten der Armen als Konsumenten umso härter.
Zu guter Letzt hat unser Lebensstil auch erhebliche Auswirkungen auf das Klima, weshalb sich die geographische Situation in den Ländern des Südens äußerst ungünstig entwickelt. Während viele westliche Länder sogar von den Temperaturanstiegen profitieren, breiten sich andernorts die Wüsten aus, Wetterextreme nehmen zu und Dürreperioden werden häufiger. Ein indirekter Einfluss auf den Hunger im Süden, mit zunehmender Intensivität.
Mit diesen drei übergeordneten Gründen lassen sich die regionalen Eigenheiten zu einem beträchtlichen Teil und mit zunehmender Relevanz erklären. Die schlechten oder oft kaum vorhandenen Institutionen sind mitunter das Resultat der Kolonialisierung und der „Entwicklungspolitik“. So wie die Steuermoral in Italien schlecht ist, weil die Italiener über Jahrhunderte unter fremder Herrschaft waren und widerwillig vereint wurden, so ist gibt es in vielen südlichen Ländern kein nationales Gemeinschaftsdenken, weil die Nationen willkürlich bestimmt worden sind und die Beziehung zum Staat seit jeher auf Gewalt beruht.
Unter solch miserablen Bedingungen lassen sich nun einmal kaum Zugriffsrechte sichern, die nach dem Ansatz des Nobelpreisträgers Amartya Sen die Vorraussetzung zur Bekämpfung des Hungers bilden. Die Eindämmung des Bevölkerungswachstums ist auch kaum zu verhindern, solange sich die Rahmenbedingungen nicht ändern. Auch die klimatischen und geographischen Bedingungen waren bisher nur in wenigen Ländern relevant, wie Sen aufgezeigt hat. Es gibt Fälle von Hungersnöten, die eingetreten sind, ohne dass die Produktion zurück gegangen wäre. Dennoch wird die geographische Situation zunehmends vom westlichen Lebensstil negativ beeinflusst.
Sind „wir“ Schuld am Verhungern von Kindern?
Man kann gewiss keinem einzelnen Menschen in Europa oder sonst wo vorwerfen, den Hunger in den südlichen Ländern mit Absicht zu provozieren. Tatsächlich ist ein breiter Wille da, den Hunger ein für alle Mal zu beseitigen. Doch unserer Lebensstil und das Wirtschaftssystem, indem wir leben, steht zumeist ohne unseres Wissens im Konflikt mit diesem Wille. Unsere Essens- und Konsumgewohnheiten sind mitunter das Resultat eines kapitalistischen Systems, das nur den Preis und die Menge kennt und uns gar zum Konsum-Fetischismus zwingt. Wir wertschätzen das Essen nicht mehr so, weil die Preise niedrig sind und wir unser Einkommen für Prestigegüter ausgeben wollen oder sogar müssen.
Der expansive Charakter des kapitalistischen Systems zwingt uns mehr zu konsumieren und aus unseren Geschäftspartnern stets das Maximum herauszuholen. Der Eingriff in andere souveräne Staaten ist die logische Konsequenz einer expansiven Wirtschaft. Wer nicht mitmacht, gerät in einer Welt des Freihandels und der Konkurrenz unter die Räder. Deshalb kann man den Einzelnen nicht vorwerfen, sie würden Kinder auf der anderen Welt absichtlich verhungern lassen. Doch das System und die Institutionen sind nicht vom Himmel gefallen. Jeder Mensch, der sich nicht der Auswirkungen seines Lebensstils und seiner Unterstützung des Systems bewusst ist, begeht damit nicht absichtlichen, aber fahrlässigen Mord.
Jeder von uns spielt eine nicht vernachlässigbare Rolle. Niemand kann das System von allein ändern und ist auch nicht verantwortlich für die Konsequenzen, die durch das aggregierte Verhalten bzw. das System entstehen. Mit einem „ethischeren“ Konsum (darunter verstehe ich das Handeln nach dem kategorischen Imperativ: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip der allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“) könnten sich die Menschen von dieser Schuld befreien. Doch dazu braucht es Maßnahmen, die Menschen mit ethischem Konsumverhalten anderen gegenüber nicht benachteiligen.
Dazu muss den Konsumenten ihr Wissen über die Produkte wieder zurückgegeben werden. Mehr Information durch regionale Produkte, weniger Zwischenhändler und weniger Distanz zum Produzenten würden einen ethischen Konsum erheblich erleichtern. Auch Einfuhrbeschränkungen würden beispielsweise den internationalen Druck erheblich reduzieren und dem expansiven Charakter des Kapitalismus zumindest zum Teil Einhalt gebieten.
Damit käme es zwar zu Preissteigerungen, doch angesichts unseres materiellen Wohlstands sollte das kein Problem darstellen. Im Gegenteil: Es würde weniger konsumiert und das Vorhandene, insbesondere das Essen, mehr wertgeschätzt werden. Frei nach dem Motto „Wer einem Manne einen Fisch schenkt, gibt ihm für einen Tag zu essen. Wer ihn das Fischen lehrt, gibt ihm ein Leben lang zu essen“, könnte sich in den südlichen Ländern durch sogenannte Schutzzölle eine eigene landwirtschaftliche Produktion mit angemessenen Löhnen entwickeln. Der zwischenzeitliche Nachfrageschock müsste „nur“ durch die Gewährung von Krediten für einige Zeit ausgeglichen werden.
Harald Wieser studiert in Wien.
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