Derzeit sind ja viele wieder groß dabei, die Meinungsforschung verspotten und verbieten zu wollen. Bei dem ersten Wahlgang der Bundespräsidentschaftswahl lagen die Institute nämlich zum wiederholten Male mit ihren Prognosen deutlich fernab des Ergebnisses. Woran das liegt? Ein paar Details.

SORA hat vorbildlicherweise die Daten seiner Wahltagsbefragung veröffentlicht. Darin enthalten sind auch die ungewichteten Rohdaten. Man hat 1210 Menschen über ihr Wahlverhalten befragt. Nach dem mathematischen Gesetz der großen Zahlen sollte diese Summe bei einer Zufallsauswahl (etwa nach der Methode, wahllos Nummern aus dem Telefonbuch anzurufen) ausreichen, um eine repräsentative Aussage über die Bevölkerung zu bekommen (+- 2,8%).

Etwa 900 Menschen haben eine Präferenz verraten, der Rest sich als NichtwählerInnen deklariert. Hier ist, was diese Menschen den Meinungsforschern tatsächlich erzählt haben:

Wahltagsbefragung, Präsidentschaftswahl (1) 2016, SORA

Hofer-WählerInnen bekennen sich auf Nachfrage oft nicht zu ihrer Wahl, während die Menschen sich außergewöhnlich oft zu Van der Bellen und Griss bekennen. Dazu gibt es einige  Theorien: Menschen antworten zum Beispiel, was sie für sozial erwünscht halten, und die aggressiv auftretende FPÖ gilt noch immer nicht als ganz koscher. Oder aber das Vertrauen von FPÖ-Wählern in die Meinungsforschung ist dermaßen erschüttert, dass sie lieber gleich wieder auflegen (was die Meinugsforschung wieder noch schwieriger macht). Oder aber schon im Telefonbuch (oder was immer SORA als sogenannte „Grundgesamtheit“ annimmt) ist ein ungewollter Bias enthalten. Jedenfalls wird die FPÖ eindeutig nicht so oft genannt wie gewählt.

Deshalb können die Forscher nicht einfach nur ungefiltert die Antworten wiedergeben, sondern müssen all diese und ganz andere Effekte nun einschätzen und gewichten. Man sieht: Sie haben mit ihrer Arbeit die Realität immerhin besser getroffen, als es durch eine reine Befragung der Fall gewesen wäre. Aber nicht gut genug.

Das liegt auch daran, dass dieser erste Wahlgang eine außergewöhnliche Aufgabe war. Präsidenten bzw. auch einzelne Personen werden in Österreich selten gewählt. Zuletzt geschah das 2010 unter völlig anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen. Allein deshalb gibt es wenige Erfahrungswerte. Es gab darüber hinaus noch nie eine Wahl mit sechs Kandidatinnen. Schon mehr als vier gab es nur in der grauen Urzeit der Republik. Auch historische Trends in einem so zersplitterten Feld könnte man also nicht direkt ableiten, selbst wenn sich die Gesellschaft seither nicht so stark verändert hätte.

Der Unsinn, Wahlen als Rennen zu verkaufen

Weniger für die Wahltagsbefragung aber für frühere Umfragen entscheidend sind auch andere Einflüsse. Etwa der Zeitpunkt der Wahlentscheidung. Es kann gut sein, dass die Meinungsumfragen vor ein oder zwei Monaten ziemlich gut widerspiegelten, wie sich die Menschen bis dahin entschieden hatten: Van der Bellen vorne, Hofer und Griss dahinter.

Allerdings hat sich ein größerer Teil der ÖsterreicherInnen erst spät für seine Wahl entschieden, und das ist nicht in allen Wählergruppen gleich. Zu schwanken bedeutet ja nicht, dass man alle KandidatInnen gleichermaßen wählenswert findet. Es ist auch Unsinn, Wahlen als Rennen zu verkaufen, wie das so oft getan wird. Parteien und KandidatInnen haben nunmal ein gewisses Potential, das sie zwecks ihrer Inhalte, des Framings und Persönlichkeiten erreichen können. Wer zwischen Griss und Khol schwankt, ist zwar „unentschlossen“, aber für die vier andere Kandidaten ziemlich unerreichbar – meist egal wie sehr die sich anstrengen. Dass sich Umfragen verändern, hat nichts mit einem Rennen zu tun, sondern mit der einzelnen Überzeugung von Millionen einzelner WählerInnen.

Grüne Wähler entscheiden sich zum Beispiel traditionell sehr früh, weil es meist wenig Auswahl in ihrem eher linksliberalem Spektrum gibt. Sie sind deshalb tatsächlich in hohem Maße Stammwähler. Für sie wäre in dieser konkreten Wahl noch einigermaßen der Kandidat Hundstorfer zur Verfügung gestanden, aber sowohl die gelähmte SPÖ als auch ihr zum Handkuss gekommener Kandidat haben für Nicht-Stammwähler momentan den Sexappel einer aussterbenden Schildkrötenart. Und der Schwenk von Alexander Van der Bellen zu Irmgard Griss macht (solange beide gewählt werden können) mit einer gewissen politischen Einstellung einfach doch zu wenig Sinn (in einer Stichwahl gegen Hofer hätte Griss wahrscheinlich 95% der Stimmen von Van der Bellen hinter sich gehabt).

Das bedeutet aber, dass bei den Grünen neue WählerInnen, die eher nach Programmatik entscheiden, später im Wahlkampf nur noch spärlich dazu kommen. (Dasselbe hat diesmal auch für Hundstorfer gegolten, dessen Wähler sich auch wesentlich früher entschlossen haben.) Es gibt keinen Grund, inhaltlich zu schwanken, wenn das inhaltliche Angebot eindeutig ist.

Im rechten Spektrum besteht mehr Auswahl. Moderartere Rechtsliberale haben Griss, überzeugtere Rechtskonservative haben Khol, harte Rechtsnationale haben Hofer, rechte Spaßvögel haben Lugner. Rechts schwanken im Moment vermutlich mehr Menschen, deshalb ist es trügerisch zu sagen, den Grünen ginge in Wahlen am Schluss „die Luft aus“ (es ist ja eben kein Rennen). Würden sich auch Grüne erst spät entscheiden, wären sie kein „Umfragekaiser“, stünden aber am Wahltag ziemlich genau gleich da.

Spät entscheiden sich aber insbesondere Wechselwähler, die in ihrer politische Identität etwas schwammiger sind. Diese könnten in anderen Situationen durchaus auch Van der Bellen wählen (etwa im zweiten Wahlgang, da werden das sehr viele tun). Aber im ersten Wahlgang hat das rechte Spektrum in einem allgemein sehr emotional aufgeladenen gesellschaftlichen Umfeld auch mehr emotionale Auswahl angeboten.

Eine Proteststimme für die FPÖ? Eine Spaßwahl für Lugner? Doch eine für die versöhnliche „Unabhängigkeit“ mit Griss, die mit dem „Nur Griss kann Hofer schlagen“-Spin Van der Bellen auch die Anti-FPÖ-Stimmen ein bisserl streitig gemacht hat?  Oder gibt man der der ÖVP mit dem staatstragenden Khol doch noch eine Chance? Das sind oft Bauchentscheidungen, und solche trifft man eben in den letzten Tagen vor der Wahl.

Was meine Thesen vage stützt: In der SORA-Wahltagsbefragung hat vor allem Hundstorfer aber auch Van der Bellen die wenigsten Spätentschlossenen dazu bekommen, Griss besonders viele (Hofer und Khol liegen dazwischen). Diese Erkenntnisse sind so eindeutig ausgeprägt, dass man sie trotz der derzeit unsicheren Aussagekraft dieser Umfragen akzeptieren kann (61% der Griss-Stimmen wurden erst in den letzten 2-3 Wochen sicher entschieden vs. 24% bei Hundstorfer).

Vereinfachtes Modell der Wahlentscheidungen für die Präsidentschaftswahl 2016

 

Die Schelte für die Meinungsforschung ist natürlich nicht völlig unverdient. In der medialen Präsentation der Ergebnisse wird – sowohl von seiten der Medien als auch der Forscher selbst – oft eine lächerliche Gewissheit verkauft (die nach der Wahl wieder weitgehend kritiklos verbreiteten „Wählerstromanalysen“ basieren in ihren Detailaussagen oft auf geringeren Samples als meine erste Proseminar-Arbeit in der Einführungs-Veranstaltung auf der Uni).

Und es wurden durch das Ergebnis sehr offensichtlich auch methodische Schwächen und Fehler sichtbar. Aus der Erfahrung der vergangenen Wahlen eingeflossene Variablen scheinen nicht zu stimmen. Auch diese Common Sense-Analyse von mir kann zwar erklären, warum Van der Bellen trügerisch gut eingeschätzt wurde, allerdings nicht, warum Hofer dermaßen unterschätzt wurde (mir gings auch eher darum, ein paar Probleme verständlicher aufzuzeigen und davon bin ich dann ein bisserl abgeschweift, wollte das als nicht allzu gewisshaften Diskussionsbeitrag aber trotzdem einbringen).

In der Wissenschaft dienen Fehler allerdings dem Fortschritt. Man muss hoffen, dass die Institute aus der Analyse des Ergebnisses lernen, damit sie in Zukunft mit ihrer Arbeit die völlig falschen Ergebnisse herkömmlicher Befragungen wieder deutlich besser korrigieren können.

Und dann wünscht man sich noch, dass die Medien endlich aufhören, ihre Umfragen stets wie Gospel zu verkünden. In den wenigsten Umfragen der vergangenen Wochen war Van der Bellen außerhalb der Schwankungsbreiten von Griss und Hofer. Er wurde trotzdem überall zum Frontrunner erkoren. Selbst, wenn das Ergebnis am Schluss zu diesem Narrativ gepasst hätte, wäre es journalistischer Mumpitz gewesen.

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