Juhu, ich kenne mein Problem. Und weiß, wie man es behandelt. Zudem winkt mir baldige Freiheit, die Rückkehr aus dem sterilen Zimmer in mein trautes Heim. Auch weg vom schnarchenden Herrn G., der eine neue Runde im Kampf um seine Gehtüchtigkeit eingeläutet hat.
Herr G. gibt nicht auf
Mein Nachbar hat wieder mal hoch gepokert. Im stetigen Clinch mit dem Krankenhauspersonal ist er vorgestern eine besonders schwere Attacke geritten. Gleich fünf Mal hat er laut schnaufend sein Bett verlassen. Nachdem er das vierte mal die eindringliche Warnung vor derartiger Akrobatik ignoriert hatte, riss der Schwester der Geduldsfaden. Sie schritt aus dem Zimmer und kam mit zwei Eisengestellen im Gepäck wieder zurück. Es war so weit, das Bett des Herrn G. wurde mit Gittern ausgestattet.
Man möchte meinen, dass eine Vergitterung für einen alten, gebrechlichen, verwirrten und nicht mehr besonders kräftigen Mann eine unüberwindbare Hürde darstellt. Und auf die meisten derlei gearteten Fälle trifft das mit Sicherheit zu. Nicht aber bei Herrn G, dessen Sturheit erstaunlicherweise stärker ist als sein Gesamtzustand. Ich traute meinen Augen nicht, als er plötzlich vor seinem Bett stand und erneut einen Gewaltmarsch startete. Der von der Schwester jäh beendet wurde.
Nun war es allerdings so, dass die Überwindung des Gitters Herrn G. erschöpft hatte. Was seine Kapitulation für diese Nacht zur Folge hatte. Kurz nach Mitternacht schlief er schlussendlich ein und tankte Kraft für den nächsten Abend.
Jod-131
Es war soweit. Es ging mit dem Krankenwagen geschätzte 200 Meter zum Schilddrüsenspezialisten. Nicht, dass ich diese Distanz nicht selber bewältigen könnte. Versicherungstechnische Wahnsinnigkeiten zwangen mich jedoch, den Einsatzwagen zu besteigen. Begleitet von zwei Leuten in roten Anzügen, die sich sicherlich sinnvolleren Tätigkeiten widmen könnten.
Beim Schilddrüsendoktor dürfte eine Prioritätsliste für Krankenhauspatienten existieren. Denn binnen zehn Minuten wurde mal wieder eine Spritze zur Blutabnahme in meinen Arm gerammt und ich erhielt einen Becher mit strahlendem Zeug zu trinken. Genauer handelte es sich um Jod-131, ein radioaktives Isotop des eigentlichen (und in Maßen gesunden) Grundstoffs. Eine halbe Stunde dauerte es, bis meine Schilddrüse in ein organisches Abbild von Tschernobyl verwandelt wurde.* Dann gings unter die Gamma-Kamera.
2 Tonnen, 5 Minuten
Da lag ich also auf einer Liege. Und wurde unter besagte Kamera geschoben. Anschließend ließ die Helferin Selbiges bis auf wenige Zentimeter Abstand herunterfahren. In mir stieg ein mulmiges Gefühl hoch. Fünf Minuten sollte ich regungslos unter dem schätzungsweise 2 Tonnen schweren Ding verbringen, das auf einem erstaunlich fragil wirkenden Hebearm montiert war. Fünf Minuten, und die Gefahr, von diesem Monstrum zu einem blutigen Sammelsurium aus Eingeweiden und Knochen zerquetscht zu werden.
Wider Erwarten blieb das grotestke Gerät aber an seiner Befestigung, und ich kam heil wieder davon. Das Ergebnis war ein pixeliges Bild mit bunten Farben, das so mancher Künstler auch im Rahmen eines LSD-Trips so zu Papier hätte bringen könnten. Glüclicherweise wusste der Doc was damit anzufangen. Er teilte mir mit, dass ich nun anderthalb Jahre lang täglich Tabletten zu mir nehmen müssten.
Anschließend hätte ich eine 50/50 Chance, das meine Schilddrüse wieder zur Besinnung gekommen ist. Zudem sind vorerst wöchentliche Bluttests notwendig. Nicht übermässig lustig. Ich hasse Nadeln.
Über Freiheit
Mit diesem Eintrag lasse ich diese kleine Serie zu Ende gehen. Je nach Ausgang des Bluttests bin ich morgen oder in ein paar Tagen daheim. Vielleicht ist noch Platz für ein ernsthaftes Wort nach all den lustigen Anekdoten.
Ich habe einen neuen Blickwinkel auf alte Menschen und das Alter generell. Herr G. ist nicht nur ein sturer Ausreisser, sondern auch ein netter Kerl, der eben zeitweise verwirrt ist. Er hat in seinen 92 Lenzen viel gesehen und erlebt. Jetzt ist er im Spätwinter seines Lebens und hadert etwas damit, wie wohl viele. Das Menschen ihre Mobilität nicht gerne aufgeben, ist das Verständlichste der Welt. Denn es bedeutet einen Verlust an Freiheit – des Menschen wichtigstes Gut.
Es ist gut, Herrn G. lachen zu sehen, wenn man ihm ein bisschen Zeit widmet.
Die Distanz zwischen den Generationen ist manchmal nicht so groß, wie man denkt.
* Das ist keine Verharmlosung des Super-GAUs von 1986. Ich würde jetzt gerne mit einem Geigerzähler spielen.