Als erfolgreich betrachtet man es in der Psychologie, wenn Kinder in ihrer frühen Lebensphase so genanntes Urvertrauen entwickeln. Im Bezug auf die Entwicklung demokratischer Grundhaltungen bin ich jedoch der Meinung, dass genau das Gegenteil Zeichen einer geglückten Reifung ist und zwar die Aneignung eines maßvoll ausgeprägten Urmissvertrauens.
Verantwortungsvolle Bürger sollten als Wähler und in ihrer Rolle als Souverän über eine Grundportion an Skepsis verfügen – ich spreche ausdrücklich nicht von Paranoia – die sie im Bezug auf die Bewertung der Arbeit der Abgeordneten sowie für ihr Wahlverhalten als Maßstab einsetzen.
Vorbild Wissenschaft
Skepsis und ständiges Hinterfragen, Transparenz und konstruktive Kritik sind zumindest seit der Aufklärung unverzichtbare Bestandteile und treibende Kraft in der Wissenschaft. Keine seriöse Forscherin wird sich gegen eine begründete Infragestellung ihrer postulierten Theorie wenden, im Gegenteil, optimalerweise ist sie selbst darum bemüht, alle möglichen und ummöglichen Fragen, die ihre These zum Scheitern bringen könnten, ausfindig zu machen und in den Raum zu stellen.
Wer sich ein Bild davon machen möchte, wie das im besten Fall aussehen kann, dem lege ich die Lektüre von Charles Darwins „On the Origin of Species“ nahe. Darwin formuliert darin relativ leicht verständlich sowie stilistisch brillant und demonstriert in fast sokratischem Dialog mit sich selbst, wie man alle möglichen Kritikpunkte durch Analyse und Experiment vorwegnimmt. Scheinbar ganz nebenbei stellt eine der wichtigsten Theorien der Wissenschaftsgeschichte auf (die im übrigen bis heute nur in wenigen Punkten widerlegt wurde).
Von der Wissenschaft kann man sich also einiges abschauen, daher auch mein Plädoyer diese Art von „Best Practice“ auch in die Politik einzuführen, zumindest dem Wähler sollte sie als Leitfaden dienen. Warum ich das für so wichtig halte, möchte ich mit den nachfolgenden Beispielen illustrieren.
Misstrauen im Wahlkampf
Eine mehr als gesunde Portion Misstrauen empfiehlt sich für den Wähler wenn gerade Wahlkampf herrscht. Egal, ob es sich um Kommunalpolitik oder anstehende Nationalratswahlen handelt. Man sollte sich standardmäßig die Versprechen der jeweiligen Lieblingskandidaten merken und nach der Wahl prüfen in wie weit sie überhaupt jemals wieder auf die Tagesordnung kommen bzw. ob nicht ohnehin das Gegenteil vom Versprochenen realisiert wird.
Eine lobenswerte Initiative sei diesbezüglich auch erwähnt. Im Rahmen der Plattform Respekt.net, die sich für gesellschaftspolitische Themen engagiert, stellte man vor Kurzem das Projekt „Mein(e) Abgeordnete(r)“ vor. Es soll Informationen über gewählte Volksvertreter liefern, um dem Wähler, der Wählerin ein Bild darüber zu verschaffen, wer sich da politisch betätigt sowie welche Qualfikationen und/oder Expertisen vorhanden sind.
Ich würde des Weiteren empfehlen, dem Kandidaten, der Kandidatin, der/die auch nur ein Versprechen bricht, forthin die Stimme zu verweigern. Selbst dann, wenn es auf nur wenigen Ebenen in der Politik Personenwahlrecht gibt, es sozusagen nicht unbedingt leicht ist, einem Politiker direkt das Misstrauen auszusprechen, meines Erachtens nach sollte man als Wähler trotzdem rigoros sanktionieren und im Fall des Falles eben die betroffene Partei nicht mehr wählen.
Wer jetzt einwendet, dass alle Politiker Lügner sind, und dass, man wenn man damit ernst macht, man im Grunde keine Partei mehr wählen kann, dem sei zwar bedauernswerterweise mehr oder weniger zugestimmt, ich habe im Moment aber keine andere Lösung für das Problem gebrochener Versprechen zur Verfügung, möglicherweise ziehen die Parteien irgendwann doch den richtigen Schluss aus den ständig sinkenden Stimmanteilen und überlegen sich zur Abwechslung mal ehrliche Politik zu betreiben.
Misstrauen bei Gesetzesentwürfen, -novellen und -reformen
Bei keinem anderen Gebiet in der Politik empfiehlt sich großflächiges Misstrauen mehr als im Bereich des Entwurfs, der Implementierung und des Vollzugs von Gesetzen. Wir befinden uns in einem Zeitalter, in dem man Aktivisten mit Mafiaparagraphen nachjagt, während Politgünstlinge sich auf scheinbar systematische und organisierte Weise bereichern. Gleichzeitig scheint es, als würde Justizia seltsamerweise gerade bei bestimmten Personen kurzfristig volle Sehkraft entwickeln und mit zweierlei Maß messen.
Mit der geplanten Vorratsdatenspeicherung steht darüber hinaus ein Angriff auf verfassungsrechtlich gewährleistete Bürgerrechte an, die zu einer Beweislastumkehr führt, die den Bürger in Hinkunft unter Generalverdacht stellt und so lange gilt, bis der Betreffende im Fall des Falles darlegen kann, dass er oder sie nichts angestellt hat.
Jede sachliche Kritik daran wird immer öfter mit dem mehr als zynischen Einwand, dass wer nichts angestellt hat, sich auch keine Sorgen machen muss, erstickt. Mein Rat deshalb: Seien sie sehr misstrauisch!
Wenn der Staat kann, dann tut er
Wer einwendet, dass gesetzliche Rahmenbedingungen den Zugriff auf private Daten schützen werden, dem sei eine sich immer wieder bewahrheitende Misstrauensgrundregel ins Stammbuch geschrieben. Wenn der Staat Daten sammelt, dann wird er sie auch nutzen. Und er wird sie auch weitergeben.
Das hat in der Vergangenheit der Fall rund um das EKIS (Elektronisches Kriminalpolizeiliches Informationssystem) im Rahmen der sog. „Spitzelaffäre“ eindrucksvoll bewiesen, jüngster Fall ist die Weitergabe von vertraulichen Bonitätsdaten durch Justizbeamte. In beiden Fällen war der Zugriff vor dem Aufdecken des Missbrauchs so gut wie nicht geregelt, plakativ gesagt, konnte man davon ausgehen, dass sogar das Reinigungspersonal im jeweiligen Ministerium Abfragen tätigen konnte.
Bleiben Sie misstrauisch!
Die oben skizzierten Bereiche sind nur zwei von vielen Anwendungsgebieten für fortgeschrittene Demokraten. Wer eine Daumenregel benötigt, um sich im politischen Alltag als Wähler und Wählerin nicht ganz alleine gelassen zu fühlen, dem sei eine generelle Empfehlung mit auf den Weg gegeben: „trust no one“. Lieber einmal öfter misstrauisch sein, als sich hinterher darüber zu ärgern, dass man schon wieder gelinkt wurde.
Susanne, 16. März 2011