Spanien wird derzeit von der größten Protestwelle der letzten Jahre erfasst. Getragen wird sie von einer breiten Koalition derer, die von der verlautbarten wirtschaftlichen Erholung nichts spüren. Sie organisieren sich nach dem Vorbild der arabischen Revolutionen über Facebook und Twitter, besetzen öffentliche Plätze und verlangen Zukunft, Würde und „echte Demokratie“.
„Que se vayan todos!“ – Alle müssen gehen! Mit dieser Botschaft drückt eine enttäuschte und frustrierte Generation auf unzähligen Plätzen in Spanien ihren Unwillen aus, der rasanten Verschlechterung ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse weiterhin zuzuschauen. In mindestens 27 Städten des Landes besetzen AktivistInnen seit dem 15. Mai Hauptplätze und verwandeln sie in Protestcamps, in denen diskutiert, vernetzt und organisiert wird.
Wir sind gekommen um zu bleiben
In Barcelona lautet die Botschaft des Protestcamps am Plaza Catalunya: „Wir gehen erst, wenn die Dinge sich ändern“. Auch in Sevilla, Zaragoza und Bilbao gab es Besetzungen und Versammlungen. Nachdem in Madrid ein erster Versuch ein Camp am Platz Puerta de Sol zu errichten – das von der Polizei am Dienstagmorgen geräumt wurde – fehlschlug, fanden sich am Abend desselben Tages 10.000 Menschen am Platz ein. Sämtlichen Abriegelungsversuchen der Polizei zum Trotz. „Wir sind gekommen um zu bleiben“, klang es aus dem kleinen Lautsprecher, der hoch über die Köpfe der Versammlung gehalten wurde, um auch die hinteren Reihen zu erreichen. Der Sprecher der Besetzung in Sol, Pablo Gomez, erklärt: „Sie sind zu weit gegangen, haben uns alles genommen. Jetzt ist es Zeit aufzustehen und uns das zurückzuholen, was uns gehört.“
Spontan wurde eine improvisierte Infrastruktur organisiert, Zelte aufgezogen, Matratzen und Sofas auf den Platz gezerrt. Die Menschen, die sich hier versammeln um an Stelle ihrer individuellen Schicksale einen gemeinsamen Kampf zu führen, kommen aus allen sozialen Sektoren, deren Lebensumstände sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert haben. Eine Mobilisierung wie diese, schreibt die spanische Tageszeitung EL PUBLICO, „hat es in den letzten Jahren in Spanien nicht gegeben. Keine Gewerkschaft, keine Partei und keine große NGO scheint hinter diesen Protesten zu stecken.“ 2.000 Menschen verbrachten in Madrid dann auch tatsächlich die Nacht unter freiem Himmel, während die massiv mobilisierte Polizei dem Treiben tatenlos zusehen musste.
Wir sind keine Ware in den Händen der Politiker und Banker
Auftakt der vielfältigen Kampagne bildeten die Demonstrationen des 15. Mai, die unter dem Motto „Wir sind keine Ware in den Händen der Politiker und Banker“ in Spaniens Hauptstädten stattfanden. Mit 40.000 TeilnehmerInnen in Madrid und 20.000 in Barcelona stellen sie die größten Mobilisierungen seit den Protesten gegen den Irakkrieg 2003 dar. In ganz Spanien waren 130.000 Menschen auf den Straßen. Zwei Monate lang wurde mit einem breiten Aufruftext, beginnend mit den Sätzen „Wir sind normale Menschen.Wir sind wie du: Menschen, die jeden Morgen aufstehen, um zu studieren, zur Arbeit zu gehen oder einen Job zu finden.“, mobilisiert. Der Breite wurde allerdings inhaltliche Schärfe geopfert, Forderungen oder gar Alternativen zum herrschenden Zustand waren im Aufruf kaum zu finden. Vielmehr drückte er eine diffuses Unwohlsein und allgemeine Frustration aus.
Konkreter wurde es dann auf den Asambleas (Versammlungen mit beratendem Charakter),die anschließend an die Demonstrationen in den Protestcamps eingerichtet wurden und immer noch andauern. Urnen gingen die Runde um Vorschläge und Ideen zu sammeln, die dann von einer Arbeitsgruppe ausgewertet wurden. Forderungen, wie jene nach einer Aufteilung der Arbeit und einer Verkürzung der Arbeitszeit bis Vollbeschäftigung erreicht sei, oder jener nach einer „Partizipativen Demokratie“ waren das Ergebnis dieses demokratischen Austauschprozesses. Lydia Posada, Sprecherin des Camps am Platz Puerta del Sol in Madrid, meinte am Dienstagabend: „Unser Ziel ist es nun, eine Versammlung abzuhalten um zu sehen, wie es mit den Protesten und den Camps weitergehen soll“.
Weiter gehen soll es zumindest bis zu den Wahlen am 22. Mai
Weiter gehen zumindest soll es. Bis zu den Kommunalwahlen am 22. Mai wollen die AktivistInnen die Camps aufrechterhalten. „No nos representan – no les votas!“ – „Sie repräsentieren uns nicht, wählt sie nicht“ – lautet deren Botschaft. Mit einer Arbeitslosenrate von 20%, das sind fast 5 Millionen Betroffene, verzeichnet Spanien den höchsten Stand seit 1976. Die Jugendarbeitslosigkeit erreicht mit einer Rate über 40% nie gekannte Ausmaße. Die aktuellen Proteste bringen die Wut über die stark verbreitete Arbeitslosigkeit und damit einhergehende Perspektivlosigkeit, die Kürzungen im Sozialbereich, sowie das Parteiensystem zum Ausdruck. Den beiden Großparteien PP und PSOE werden Korruption und Veruntreuung vorgeworfen.
Unter Ministerpräsident Zapatero wurde Anfang September 2010 eine Arbeitsmarktreform verabschiedet, die die Arbeitsverhältnisse weitgehend flexibilisierte. Neben der faktischen Abschaffung des Kündigungsschutzes und der Ausweitung von Kurzarbeit wird es Arbeitslosen erschwert, Arbeits- oder Weiterbildungsangebote auszuschlagen. Wer diese ablehnt ist mit Leistungskürzungen konfrontiert. Mit einem Generalstreik am 29. September hatten die Gewerkschaften gegen die neue Reform protestiert. Doch das Land lahm zu legen und eine breite Mobilisierung zu erreichen gelang ihnen nicht. Laut aktuellen Umfragen stürzte die Regierungspartei PSOE auf 33,4% ab und wurde von der PP mit 43,8 % überholt. Von dieser wird allerdings erwartet, dass sie den unpopulären Sparkurs der Regierung Zapateros noch weiter verschärfen wird.
Die Ablehnung des Zweiparteiensystems drückt sich in Sprüchen wie: „Ni PP, ni PSOE“ -„Weder PP, noch PSOE“ oder „PP, PSOE la misma mierda es“ – „PP, PSOE ist die gleiche Scheiße“ aus. Es wird aufgerufen, keiner der beiden Parteien eine Stimme zu geben und/oder kleinere Parteien zu wählen. Die Abneigung gegen das politische System geht bei vielen der Protestierenden aber durchaus noch weiter. So meint Aguierre Such, Aktivist der Besetzung von Sol: „Wir wollen diese repräsentative Demokratie nicht mehr, die immer die gleichen gebrochenen Wahlversprechen zur Grundlage hat, mit Politikern, die machen was sie wollen anstatt dem Volk zu dienen und selbst knietief im Korruptionssumpf stecken.“
Fabian Unterberger studiert in Wien Internationale Entwicklung mit Schwerpunkt auf sozialen Bewegungen in Lateinamerika und befindet sich derzeit für einen Erasmusaufenthalt in Madrid.
Viola Singer studiert Politik und TFM an der Universität Wien und absolviert derzeit einen Erasmusaufenthalt in Madrid.
Beide sind schon lange Zeit politisch aktiv und waren während der Uniproteste 2009/2010 v.a. in der Bolognaburns – Gruppe sehr engagiert.