Es war reiner Zufall, dass ich in der Nähe der Tower Bridge in den Bus stieg, um ein Fußballmatch an der White Hart Lane in Tottenham zu sehen. Normalerweise fährt man diese Strecke mit der flotten U-Bahn. Doch es war noch genug Zeit, und so blieben wir über der Erde.
Die Fahrt dauerte über eine Stunde. Nach einiger Zeit kam man nicht umhin, eine Veränderung der Gegend festzustellen. Weg vom historischen Zentrum mit seinen Prunkbauten, hin zu gewöhnlichen Hauptstraßen mit ihren Alltagsgeschäften. Aber mit jedem Meter wurden die Schaufenster und Fassaden schäbiger, die Gehsteige schmutziger, die Farbe an den Zäunen der Parks bröckeliger. Dieses London kennt man als Tourist normalerweise nicht.
Tottenham ist kein Slum. Dieser Stadtteil gehört immer noch zu dem, was man „entwickelte Welt“ nennt. Man musste in meiner Situation dort keine Angst haben. Die Straßen, auf denen der Bus verkehrte, waren belebt. Die Menschen dort gingen ganz normal ihrem Tagwerk nach. Aber hier Nachts in den Seitengassen unterwegs zu sein? Das muss man nicht unbedingt haben.
Einigen Menschen bleibt das nicht erspart. Jenen, die hier wohnen. Es ist jenes London, in das die Armen gedrängt werden. Die, die sich die hohen Mieten von anderen Bezirken nicht leisten können, um ihre Kinder in Sicherheit aufwachsen zu sehen und sie morgens in bessere Schulen zu schicken. Hier herrscht die vierthöchste Kinderarmutsrate von Großbritannien. Beinahe jeder Zehnte ist arbeitslos – doppelt so viele wie im Durchschnitt des Landes.
Mit jeder Haltestelle, die uns entlang dieser heruntergekommenen Straßen von London führte, saßen weniger Weiße im Bus. Denn viele von den Menschen, die hier leben, sind zugewandert oder schwarz. Diese Gruppen leiden auch in London unter Diskriminierung und sozialen Hürden – zum Teil aus rassistischen Gründen, meist ganz einfach aus sozialen. Wer einmal arm ist, hat eine hohe Chance es auch zu bleiben. Die Entwicklungen kommen nicht plötzlich. Meine Busfahrt ist sechs Jahre her.
Das was jetzt kommt
Rassismus ist jedenfalls der schlichte Grund, warum in rechtsradikalen Blogs bereits von „Rassenunruhen“ gesprochen wird, und einer angeblich zu starken Einwanderung die Schuld dafür gegeben wird. Das wird wieder einmal ein Stückchen in den Mainstream reinschwappen – auch wenn in London natürlich (einmal mehr) nicht von Eingewanderten gegen Einheimische gekämpft wird. Und die Unruhen haben auch nicht das Muster, dass Schwarz gegen Weiße oder gar Muslime gegen Christen kämpfen. Mit all dem hat das nichts zu tun. Hier agiert ein wahrscheinlich überschaubar großer Mob von kriminellen Jugendlichen aus armen Vierteln gegen die Gesellschaft und ihre Autoritäten, weil ihnen unter diesen Autoritäten und in dieser Gesellschaft die Chancen und Perspektiven fehlen, nicht aber die entwürdigende Ungerechtigkeit.
Deshalb werden – in nahezu hilfloser Stumpfsinnigkeit – kleine, lokale Geschäfte in Brand gesteckt, nehmen sich die Plünderer, was sie anders kaum kriegen könnten und werden Polizeiwägen verwüstet. Die jener Polizei, in deren Gewahrsam seit 1998 zumindest 333 Menschen gestorben sind, ohne dass auch nur ein Polizist dafür verantwortlich gemacht wurde. Ein möglicher Grund dafür, warum nach dem Tod von Mark Duggan – einem vierfachen Vater und Taxifahrer, möglicherweise auch Drogendealer – wenig Vertrauen in die internen Ermittler gesteckt wurde und zunächst friedliche Proteste stattfanden, die später in all diese schrecklichen Szenen kippten, die man in London nun sieht.
Umso tragischer, dass die Energie der Erhebung dieser Ausgegrenzten sich gegen sie selbst richten wird, denn der Griff zur Gewalt ist nicht klug und wird kein Problem lösen. In den Monaten und Jahren nachdem die Unruhen aufhören werden, wird sich die Situation der Menschen in diesen und anderen Gegenden wahrscheinlich eher noch verschlechtern. Die Gewalt wird die Hürden noch höher machen, über die sie springen müssen, um in besseren Gegenden leben zu können.
Und deshalb wird dieser sinn- und kopflose Vandalismus von einigen Kriminellen auch im Nachhinein genau jene ihrer armen Mitmenschen treffen, die auch jetzt schon die größten Leidtragenden der Gewalt sind, weil sie am Ort des Geschehens leben. Jene Menschen, die ansonsten aber genau auch unter der Diskriminierung und Ausgrenzung einer vermeintlich offenen Gesellschaft leiden, die überhaupt erst einige Halbstarke in diese kriminelle Dummheit treibt.
Zur Klarstellung, weil viele Menschen oft Probleme damit haben eine Erklärung und eine Rechtfertigung zu unterscheiden. Meine Ausführungen will ich nicht als Entschuldigung für die kriminellen Akte verstanden wissen, sondern als Erklärung. Nichts rechtfertigt die Unruhen, wie sie jetzt stattfinden. Mit Gewalt und blinder Zerstörung löst man keine Probleme, sondern schafft sich neue (das gilt noch bedingungsloser, wenn sich diese gegen Unschuldige richten).
Aber was sich von Tottenham auf England ausbreitete – und auch schon seit Jahrzehnten vorher an anderen Orten zwischen Los Angeles und den französischen Banlieus zu sehen war – ist das Ergebnis einer Gesellschaft, deren demokratische Strukturen es nicht mehr schaffen, die Argumente und Bedürfnisse der Menschen friedlich zu integrieren.
Und es ist vor allem auch das Ergebnis einer Gesellschaft, die für zu große Teile ihrer Menschen keine akzeptable Form von Gerechtigkeit und keinen einigermaßen egalitären Zugang zu Chancen mehr bereit hält. Die meisten Menschen werden nicht kriminell und gewalttätig, wenn sie in einer solchen Situation stecken. Manche aber schon. Das gefällt uns nicht und hilft niemandem weiter, aber man kann nicht den Sand in den Kopf stecken und so tun, als wäre es unerklärlich.
England in diesen Tagen ist das beste Argument dafür, warum Budgetsanierungen nicht auf dem Rücken der kleinen Leute ausgetragen werden können, sondern warum Reiche und Wohlhabende nach ihren viel größeren Kräften mehr beitragen müssen. Weil man in England jetzt auch sieht, was man sich erspart, wenn man beim Bildungs- und Sozialwesen nicht zu hart den Sparstift ansetzt, und was es eine Gesellschaft kostet, das doch zu tun.
Wenn man all diese Entwicklungen nicht umkehrt, werden die Plünderer in Zukunft auch Wege finden, um in die reicheren Gegenden zu gelangen. Der Bus fährt auch in die andere Richtung.