Sehr geehrter Herr Hessel,

wie ich dem „Kurier“ entnehmen konnte, gastieren sie Ende der Woche in Wien, wo sie, auf die Einladung der Nationalratspräsidentin Barbara Prammer hin, eine Rede vor dem Parlament halten werden.

Nun, auch ich gehöre zu der guten, knappen Million, die eine Ausgabe ihres Buches “Empört Euch!” gekauft haben – weniger aus Neugier, als aus Solidarität und Respekt. Dem Titel kann man nur zustimmen. Mit der Ausnahme, dass ich keinen Grund mehr zu Empörung finden muss, ich hab ihn schon längst gefunden..
Zusammen mit ein paar (zig)tausend anderen, habe ich mich im Herbst 2009 ordentlich empört, und  das Audimax der Uni Wien, den größten Hörsaal der größten Universität, mehrere Monate lang besetzt gehalten. Man nannte uns die AudimaxistInnen, die #unibrennt-Bewegung.

Vielleicht haben Sie ja von uns gehört, der Protest schwappte auch auf Deutschland über, in England wurden Universitäten besetzt und sogar in den USA kam es zu Besetzungen und Streiks. Unser Grundmotiv war die Empörung. Empörung über die Zustände auf unseren Universitäten, Empörung über die zunehmende Verdummung unserer Gesellschaft, Empörung über die Gleichgültigkeit unserer Regierung. Und Gleichgültigkeit ist ja bekanntlich die schlimmste Einstellung von allen.Wie das mit der Empörung so ist, hat sie alle Beteiligten zu reflektierten, aufmerksamen, engagierten und höchst politischen, jungen Menschen erzogen – und unsere PolitikerInnen zu großen Fragezeichen und Leerstellen entstellt. Knapp ein Jahr nach Beginn der Besetzung beschloss unsere Regierung sogar noch weitere drastische Einsparungen im Hochschulbudget, die Kürzung der Bezugsdauer der Familienbeihilfe von 26 Jahren auf 24 Jahre. Im Zuge dieser Einsparungen verloren die Studierenden insgesamt 130 Millionen Euro. Diesmal empörte sich die offizielle HochschülerInnenvertretung direkt im Parlament. Zwanzig Personen  warfen Flugblätter von der ZuschauerInnengalerie des Parlaments, riefen Parolen, entrollten Transparente und machten auf das Menschenrecht auf Bildung aufmerksam.

Sie kennen diesen Artikel, Sie haben schließlich an der Erklärung der Menschenrechte mitgeschrieben.

Die Antwort aus dem Parlament kam prompt, es wurden Verwaltungsstrafen an die empörten Studierenden ausgestellt, und sie bekamen 18 Monate Parlamentsverbot. Die amtierende Nationalratspräsidentin bei dieser Entscheidung war Mag.a. Barbara Prammer, studierte Soziologin, ihre Gastgeberin.

Erst in den letzten Wochen wurde das gesamte Ausmaß des Protests richtig klar; die Beteiligten der Störaktion wurden vom österreichischen Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung offiziell in die ExtremistInnendatenbank eingetragen. Sie sind nun potenzielle TerroristInnen. Wie willkürlich mit dieser Bezeichnung umgegangen wird, haben prominente Fälle wie die österreichischen TierschützerInnen, oder die “AMS-4” schmerzlich vorexerziert. Das ist der hiesige Umgang mit Empörung und Protest.

Die Ankündigung ihrer Rede im Parlament, macht mich persönlich ein wenig stutzig, aber ich nehme an, dass Sie vom österreichischen Umgang mit “Empörten” nichts wussten. Ein Umgang, der mittlerweile kaum noch Neuigkeitswert besitzt, bei politisch Engagierten jedoch für ziemlich viel Bauchweh sorgt. Wer begibt sich schon freiwillig in die Kriminalität, wenn schon Flugzettel, Transparente und “Störaktionen” im Parlament als Terror bezeichnet werden. Sie plädieren für Empörung und friedlichen Protest, für eine Rückkehr zu kritischem Denken und Aktivismus, für die Erhaltung demokratischer Werte und Mut. Nun, es gibt eine stetig wachsende Gruppe an jungen Menschen hier in Wien, die all das schon längst begriffen hat, und dafür hart bestraft wird.
Ich finde, ihr Platz ist nicht an der Rednerkanzel im Parlament, Herr Hessel. Ihre Worte, ihr Pamphlet für Empörung und ihre Erfahrungen in der Resistance sind bei uns besser aufgehoben als im Parlament.

Verlegen sie ihre Rede ins Audimax der Universität Wien, dorthin, wo schon im Herbst 2009 Jean Ziegler den empörten Studierenden Mut zusprach. Dort wo tausende junge Menschen monatelang ausgeharrt und besetzt haben, um ihren Unmut und ihre Hoffnung zum Ausdruck brachten, ihre Angst vor Perspektivlosigkeit, ihre Sorge um Bildung und ihre Bereitschaft zu Widerstand. Um Sie zu zitieren:

„Schöpfung ist Widerstand. Widerstand ist Schöpfung.“

Ich lade sie ein, ihre Rede vor uns, vor den Jungen im Audimax, zu halten. Wir sorgen für den Raum und für die Aufmerksamkeit, denn das können wir bewiesenermaßen am besten, und sie beehren uns mir ihrer Anwesenheit. Was halten Sie davon?

Hochachtungsvoll,
Eine von Vielen

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