Am 22.02.2011 kippte die EU die Nulltoleranz für gentechnisch verändertes Futtermittel. In Zukunft dürfen Futtermittel EU-weit nun mit nicht zugelassenen gentechnisch veränderten Pflanzen verunreinigt werden. Diese bis kurz vor knapp sowohl unbeachtete wie auch wegweisende Entscheidung wurde gegen den expliziten Willen der europäischen Bevölkerung durchgesetzt. Eine Nachruf zum Trauerspiel der deutschen „Demokratie“.
Es mag sein, dass sich in dem ein oder anderen europäischen Land eine nicht so umfassende Gegnerschaft der Gentechnik findet wie in Deutschland. Die EU ist ja schließlich nicht nur Deutschland. Aber an besagtem Dienstag hing alles an der Stimme von Deutschlands Agrarministerin Ilse Aigner. Sie war faktisch in einer Veto-Situation. Umfragen zufolge lehnen 85 Prozent der Deutschen die Verfütterung von gentechnisch manipulierten Pflanzen an Nutztiere ab. Frau Aigner stimmt dafür. [Anm. d. Red.: Übrigens auch Österreichs zuständiger Minister Berlakovich]
Es ist einer dieser Momente, in denen man am liebsten das Zeitungsabo kündigen, das Internet abstellen, aus sämtlichen Vereinen austreten und einfach nichts mehr mit dem ganzen Scheiss zu tun haben will. Ein politisch aufgeklärter Mensch zu sein ist heutzutage vor allem mit einem Gefühl verbunden: Frust. Da ist nur auf den ersten Blick tröstend, dass man damit nicht alleine dasteht. Eine Forsa-Umfrage bestätigt, was viele insgeheim wissen: Die Mehrheit der Deutschen kann sich nicht (mehr) mit unserem System identifizieren. Vom Gedanken her gut, aber an der Umsetzung mangelt es: Die Demokratie wird in diesem Land falsch verstanden. Ironischerweise – oder doch logischerweise? – nicht vom Demos, dem Volk und theoretischen Souverän, sondern von seinen Vertretern. Gehen wir diesem volksverhetzenden Gedanken mal ein stückweit nach.
Von Stuttgart 21 bis Anfghanistan
Abseits aller grundlegenden Kritik an der theoretischen Architektur unseres parlamentarisch-“demokratischen“ Systems muss man seine Richtung gutheissen. Ist doch der Grundgedanke, dass Parlamentarier die Vertreter der Volkes sind und seine Interessen durchsetzen. Als solche treten sie jedoch bei vielen Entscheidungen nicht mehr auf. Viele Entscheidungen sind nicht mehr nachvollziehbar. Warum winken EU-Abgeordnete die Gentechnik durch? Warum wird S21 gegen die offensichtliche Opposition der eigenen Bevölkerung durchgeboxt? Warum die Vorratsdatenspeicherung? Oder der Krieg in Afghanistan? Der Ausstieg aus dem Atomausstieg? All diese Themen – um nur die aktuell wichtigsten (spezifisch deutschen) Beispiele zu nennen – sind hochumstritten und das zurecht. Es geht dabei mehr oder weniger um Grundsatzentscheidungen für die Gesellschaft, es gibt sehr starke Argumente dagegen und sie wurden trotzdem allesamt gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt. Was könnte unsere Volks-“Vertreter“ wohl dazu bewogen haben, so zu entscheiden?
Es gibt zwei Arten von politischen Entscheidungsgrundlagen: Entweder man entscheidet im Interesse der gesamten Bevölkerung (dem sogenannten Gemeinwillen), oder im Sinne von Einzelinteressen verschiedener Gruppierungen. Nun bin ich kein Misanthrop aber es ist ja wohl offensichtlich, dass unsere Politik – um nicht zu verallgemeinern muss man sagen in den vorliegenden Beispielen – nicht gemäß dem Gemeinwillen entscheidet. Das wird vor allem offenbar, wenn dieser so deutlich hervortritt wie bei der sehr breiten Front gegen Gentechnik. Ergo sind es diverse Einzelinteressen, die unsere Politiker vertreten.
Übergangener Mehrheitswille
Diese müssen nicht zwingend ihre eigenen Interessen sein, auch wenn das in Zeiten der „bezahlt wird später“-Korruption (Stichwort Ex-Politiker als Vorstandsmitglieder) Nahe liegt. Es können auch Interessen kleiner Interessengemeinschaften sein, wie sie etwa von Lobbyisten hervorgebracht werden. Grundgedanke der Demokratie ist jedoch, das in ihr der Gemeinwille deutlich werden kann und auch umgesetzt wird. Es ist klar, dass es den abstrakten Gemeinwillen nicht immer gibt, aber in so deutlichen Fällen wie den oben genannten tritt er klar hervor und sollte dann gefälligst auch wahrgenommen werden!
Wird er aber nicht. Die eigentlich als Volksvertreter gewählten Parlamentarier haben dieses Grundverständnis der Demokratie verloren. Es ist ihnen nicht mehr präsent, dass das Volk eigentlich der Souverän sein sollte. Und weil dies nicht mehr praktiziert wird, ist es das auch faktisch nicht mehr.
Die falschen Fragen
Die Interessen des Volkes liegen klar auf der Hand. Manche mögen die Demoskopie verteufeln, aber sie macht es möglich: Wir könn(t)en wissen was wir alle denken. Es müssten in den Umfragen nur die richtigen Fragen gestellt werden. Fragen nach dem Typus „Was denkt ihr?“. Dies geschieht aber nur in Ausnahmefällen wie etwa den oben genannten aufgrund ihrer Dimensionen in der politischen Debatte. Stattdessen wird stets gefragt: „Wie wählt ihr?“
Es ist also nicht wichtig zu wissen, wie das Volk über diverse Themen denkt, sonder nur ob es sich auf die kommenden Wahlergebnisse auswirken wird. Auch das ist Ausdruck des grundlegenden Demokratieverständnisses unter Politikern. Sie verstehen Wahlen nicht (mehr) als Interessenbörse vor dem Volk, sondern lediglich als interner Wettbewerb um Macht. Das Volk bleibt dabei weitgehend ausgeblendet, ironischerweise beim einzigen Vorgang, bei dem der Bürger seinen mickrigen Anteil am politischen System haben könnte.
Demokratie?
Wir haben unsere Souveränität verloren. Unsere Politiker sehen es nicht als selbstverständlich an, unsere Interessen zu vertreten. Wenn unsere „Vertreter“ uns aber nicht vertreten – mit welcher Berechtigung bezeichnen sie sich dann noch als Demokraten? Ist ein politisches System, das solche Politiker hervorbringt noch eine Demokratie?
Nein. Die „Wahl“, die wir haben, ist keine. Das Listensystem macht das deutlich: Wir wählen eine Liste von Kandidaten, die eine Partei für uns auswählt, die längst nichts mehr mit den Prinzipien zu tun hat, die sie vorgibt zu vertreten. Mach dir nichts vor! Es kann nicht jeder Einfluss nehmen – du musst zu einer Partei. Bist du in keiner Partei, hast du keine Chance auf echte Entscheidungsgewalt. Bist du in einer, musst du deine Souveränität aufgeben und dich anderen Interessen unterordnen. Abgeordnete sind – ähnlich wie wir – im Parlament oft auch nur gehobenes Stimmvieh (Stichwort Parteidisziplin). Es ist eine sich selbst rekrutierende quasi-Oligarchie, die in sich ein undemokratisches Selbstverständnis hervorgebracht hat.
Dieses Urteil mag hart klingen und man mag es bestreiten. Aber die Bürger fühlen, auch wenn viele es nicht verstehen, dass etwas ganz gewaltig schief läuft. Die Identifikation der Bürger mit unserem politischen System ist, im Gegensatz zur Blütezeit der „Demokratie“, heute nur noch eine negative Identifikation. Es wird nicht mehr per se als gut bezeichnet, es herrscht lediglich die Meinung, dass die Alternativen allesamt nicht besser seien. Aber Verbesserungen müssen möglich sein, und sie zielen alle in eine Richtung: Mehr Basisdemokratie!
Denkanstoß
Warum eigentlich soll es kontraproduktiv sein, Politiker auch abwählen zu können? Und, etwas tiefer greifend: Warum eigentlich soll es (in diesem Zusammenhang) produktiv sein, dass Politiker nur ihrem Gewissen verpflichtet sind?
Benedikt Heudorfer (Jg. 1987) studiert Umweltingenieurswesen im Master-Lehrgang an der TU München Er ist derzeit aber auf ERASMUS-Semester in Edinburgh. (Benedikt kontaktierte uns über unsere Hinweisbox.)
Fotocredits: BASFPlantScience, CC2.0-BY