Wer meinem twitter-Account folgt oder mein Facebook-Freund ist, hat mitbekommen, dass mich die aktuellen WikiLeaks-Veröffentlichungen brennend interessieren – weniger der Inhalt der Depeschen als die Art und Weise ihrer Veröffentlichung, der Kampf der US-Regierung dagegen und der Widerstand einer immer breiter werdenden Netzcommunity. Mich fasziniert vor allem, wie Julian Assange mich manipuliert und meine Aufmerksamkeit anregt und steuert. Das ist ganz große Kunst – die Kunst der politischen Pressearbeit.
Zunächst: Die Vorwürfe, WikiLeaks würde Unmengen an Information unkontrolliert ins Netz stellen sind falsch. Völlig falsch. WikiLeaks gibt Information in sehr kontrollierten, gesteuerten Dosen ab. Der Start erfolgte in enger Abstimmung mit den Erscheinungsterminen mehrerer internationaler Print-Medien, darunter „Der Spiegel“. Ein Mitarbeiter von Radio Basel konnte in der Schweiz ein Exemplar des Heftes am Bahnhofskiosk unmittelbar nach der Auslieferung kaufen, also noch vor dem offiziellen Verkaufsstart. Als der Radiosender die darin enthaltenen Informationen sendete, reagierte WikiLeaks schnell: Den Schweizern wurden exklusiv Dokumente zur Verfügung gestellt, die die Schweiz betrafen – im Gegenzug mussten sie die Sperrfrist bis zum Verkaufsstart der Printmedien akzeptieren. „Exklusiv“ heißt, dass man jemanden ausschließt. Im klassischen Medienbetrieb hieß exklusiv: Nur wir haben die Infos, die Konkurrenz ist ausgeschlossen. Im Fall von digitalen Dokumenten einer Internet-Plattform heißt das: Nur wir haben die Infos, die UserInnen, LeserInnen, SeherInnen, HörerInnen sind so lange ausgeschlossen, wie wir das wollen. Wenn WikiLeaks den Anspruch hat, Herrschaftswissen aufzubrechen und top-down-Kommunikationsstrukturen niederzureißen, dann tun sie das keineswegs in Reinform. Halten wir das mal ohne Bewertung fest.
Was wäre die Reinform? Alle Dokumente allen gleichzeitig zur Verfügung zu stellen, ohne Kontrolle oder Bearbeitung. Wäre das besser? Mein Bauch sagt ja, aber ich habe auch Zweifel. Auch Daniel Domscheit-Berg, der ehemalige deutsche Pressesprecher von WikiLeaks, der nach Streit mit Assange in Kürze mit einem neuen Projekt starten will, wägt ab:
Eine Plattform für Whistleblower ist eine neutrale Instanz und muss sich selbst als reine Dienstleistung begreifen. Dies betrifft vor allem die verlässliche Entgegennahme, Verarbeitung und Auswertung von Dokumenten. Diese Funktion darf sie nicht aus dem Auge verlieren und sie muss sicherstellen, dass sie selbst bei großem Zuspruch die Einsendungen diskriminierungsfrei abarbeitet. Auch funktionale Schnittstellen mit den klassischen Medien werden benötigt. Eine Whistleblowing-Plattform ist Zuarbeiter für Medien. Deren Aufgabe ist die Analyse, Aufbereitung, Kontextualisierung und Präsentation der Informationen gegenüber der Gesellschaft. Die Verknüpfung von Whistleblower-Plattform und Medien bewirkt auch die gegenseitige Kontrolle und Stützung beider Seiten. Die Qualität der Berichterstattung wird überprüfbarer, die Mechanismen der Whistleblowing-Plattform unterliegen einer Revision durch unabhängige Journalisten … (in „Der gute Verrat„)
Mir fehlt hier noch etwas: Die Steuerung von Aufmerksamkeit. TeraByte-Festplatten und Breitband-Internet machen uns de facto unendliche Information zugänglich. Technisch betrachtet, vom Datenvolumen her, sind 250.000 Depeschen ein Klacks. Aber ich kann sie nicht verarbeiten. Ich könnte auch 25.000 nicht verarbeiten. Oder auch nur 2.500 Depeschen. Meine menschliche Verarbeitungskapazität ist nach wie vor beschränkt. Das ist ein Engpass, der bleiben wird.
Klar, ich kann mit einer Suchmaschine nach Schlagworten wie „Austria&“ stöbern, aber das reduziert die Komplexität nicht genug. Die Wahrheit ist doch: Wenn jemand diese 250.000 Dokumente einfach frei zugänglich auf einen Server lädt und dann nichts unternimmt, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit darauf zu lenken, dann erfahre ich nicht mal, dass die Depeschen veröffentlicht sind. Geschweige denn, dass ich die interessantesten Details ausfindig machen würde. Man kann Julian Assange Selbstinszenierung vorwerfen und ihn deshalb unsympathisch finden, aber er weiß, was er tut. Das Resultat davon sah gestern in meiner wichtigsten Nachrichtenquelle so aus:
Da draußen in den unendlichen Weiten des Netzes sind sicher noch sehr viele andere spannende Informationen frei zugänglich und zwar genau jetzt. Aber ich weiß es nicht. Ihr wisst es nicht. Und damit haben diese Informationen genau Null politischen Wert. Vor allem: Es wäre egal, wenn ich etwas Wichtiges finde, mit diesem Fund aber allein bliebe. Dann wüsst ich’s halt. So what? In der Politik entsteht Druck durch Massen und durch ihre fokussierte Aufmerksamkeit.
Ich erlebe das auf der ganz kleinen Ebene gerade bei meiner politischen Arbeit als Mandatar einer Oppositionspartei. Bei der Landtagswahl im Burgenland gab es Wahlbetrug, vermutlich flächendeckend. In einem Fall ist der Täter bereits geständig. Diese Information ist verfügbar, sie wurde verbreitet, jeder weiß es. Auswirkung: Null. Es wurde eine Woche aufgeregt berichtet, nun liegt keine Aufmerksamkeit mehr darauf. Neuwahlen sind kein Thema. Noch ein Beispiel: Wir haben ein Regierungsmitglied, das wegen Amtsmissbrauchs verurteilt wurde. Wieder war die kurzfristige Aufregung groß, aber der Landesrat ließ sich bei der nächsten Landtagssitzung einfach krankheitsbedingt entschuldigen – und aus. Rücktritt? Geh wo. Die Sache ist ausgesessen. Es reicht eben nicht, dass alle davon wissen. Information an sich ist nicht genug. Veränderung gegen den Willen der Herrschenden gibt es nur, wenn die Aufmerksamkeit der Massen politischen Druck erzeugt.
Wer Aufmerksamkeit steuert und fokussiert, hat Macht, und zwar die vierte Macht im Staat. Macht ist aber niemals neutral. Macht hat immer eine Agenda. Das behaupte ich so dogmatisch, bis mir jemand ein einziges Gegenbeispiel nennt.
Beißt sich hier der Hund in den Schwanz? Ersetzen die neuen Medien nur alte Machtstrukturen? Ist Assange, dem ja autoritäres Führungsverhalten vorgeworfen wird, nur ein Spiegelbild dessen, was er bekämpft? Möglich.
Gestern Abend habe ich etwas Interessantes beobachtet. Es ging nicht um ein politisches, nicht um ein „seriöses“ Thema, sondern um üble Sensationslust. Bei der Fernseh-Show „Wetten Dass“ ist ein Kandidat vor laufenden Kameras schwer verunglückt. Ich war bei einer Veranstaltung, wo zwar kein TV-Gerät war, aber viele Menschen Smartphones hatten. Meine Twitter-Timeline war voll mit #wettendass-Tweets, meine Aufmerksamkeit wurde sofort darauf gelenkt. Es dauerte nur wenige Minuten, bis die erste Person das YouTube-Video des Unfalls auf ihrem iPhone abspielte und das Telefon rumreichte. Ich habe lange genug in Zeitungsredaktionen gearbeitet, um zu wissen, dass diese „Chronik“-Geschichten rund um Unfälle, Unglück und Verbrechen mehr Aufmerksamkeit bekommen als politische Storys. Darüber will ich mich nicht mehr echauffieren, ich blende diesen Aspekt hier bewusst aus, das ist halt so.
Interessant ist etwas anderes: Es war kein einziger Journalist in diesen Informationsfluss eingebunden. Niemand hat die Aufmerksamkeit der Personen in meiner Umgebung zentral gesteuert. Irgendjemand hat das Video auf YouTube gestellt, eine Fülle von Menschen hat auf Twitter und Facebook die Aufmerksamkeit darauf gelenkt. Die beteiligten technischen Plattformen sind – zumindest in diesem Fall – content-neutral und ohne redaktioneller Betreuung. Es war kein demokratischer Vorgang, weil keine Mehrheitsbildung stattfand, aber es war ein kollektiver Prozess. Ein dezentraler und fast würde ich sagen: herrschaftsfreier Prozess. In Social-Media-Denglisch war es allerdings ein „viraler Erfolg“ und damit sind wir schnell bei viralem Marketing und damit wieder bei Steuerung und Manipulation von Aufmerksamkeit … Das Problem bleibt ein Problem, weil wir hier im Zentrum der Machtfrage in der Informationsgesellschaft sind.
Das Ganze wäre für mich eine unwichtige Episode gewesen, wenn ich nicht gleichzeitig so viel über WikiLeaks nachdenken würde. Und da hat es plötzlich fast hörbar *klack* in meinem Kopf gemacht: Wir brauchen nicht nur eine Methode, wie wir Informationen geschützt veröffentlichen können. Das ist genau genommen der leichte Teil. Der schwierige Teil ist: Wie machen wir aus der Steuerung der Aufmerksamkeit einen Bottom-Up-Prozess? Darauf habe ich überhaupt keine Antwort, aber Vorschläge würden mich brennend interessieren.
Danke für eure Aufmerksamkeit. Ich weiß sie wirklich zu schätzen.
Michel Reimon ist ein österreichischer Autor, Journalist, Kommunikationsberater und Politiker. Er war Spitzenkandidat der Grünen bei der Landtagswahl im Burgenland 2010 und ist aktueller burgenländischer Landtagsabgeordneter. Er hat seinen eigenen Wikipedia-Eintrag und bloggt vor allem dort, wo dieser Beitrag zuerst erschienen ist: Reimon.net.