Seit die Veröffentlichung von tausenden US-Botschaftsdepeschen begonnen hat, begleitet Wikileaks der Vorwurf in diesem Fall nichts aufzudecken, sondern nur boulevardeskes Geschwätz an die Oberfläche zu bringen. Marco Schreuder schreibt zu Cablegate zum Beispiel Folgendes:
„Es ist natürlich lustig zu Geheimdienstdokumenten zu kommen, in denen die eigenen Politiker und Politikerinnen des jeweiligen Landes von einer Weltmacht wie den USA eingeschätzt werden. Und das auch noch überraschend schonungslos und ehrlich. Neuigkeitswert haben diese Depeschen aber nicht. Hier bedient sich WikiLeaks weniger dem Bedürfnis nach mehr Transparenz, sondern vielmehr nach purem Entertainment. Infotainment. Gossip. Tratsch.“
Da muss ich einfach fragen: Was wäre denn Neuigkeitswert? Eine kleine Auswahl, der bedeutenden Informationen aus den Cables? Hier unsere Auswahl der Top 10 Cablegate-Inhalte (bis jetzt), die man selbst gelesen haben sollte.
Marco weiß ja auch selbst darüber bescheid, dass es diese vielen bedeutenden Cables gibt, wie er in der folge so nebenbei bemerkt. Trotzdem bleibt er bei der populären Gossip-These
„Somit auch nicht verwunderlich, dass gerade Massenmedien diese Depeschen interessanter finden, als die Akten, die tatsächliche einen Missstand aufzeigen, und es somit wirklich verdienen, veröffentlicht zu werden“
Es stimmt schon. Nehmen wir etwa das erste Spiegel-Titelblatt zu Cablegate her:
Das Cover ist ja ein Hohn für die einst große politikjournalistische Tradition dieses Blattes. Hier wird anstelle von „harten Themen“ der emotionalisierte, personalisierte Aufreger an den Kiosk gestellt (fairerweise sollte man sagen: einige andere Geschichten des Blattes zum Thema können wesentlich mehr). Doch deshalb das Material zu verdammen, wäre grundfalsch. Das Problem liegt hier in der Medienlogik. Nur weil viele Medien sich auf das Boulevardeske stürzen, ist das Material noch lange nicht überflüssig.
Vielmehr ist hier eine Kritik an der Ökonomisierung und Boulevardisierung von Medien angebracht, die lieber ein doofes Bild des „Alpha-Rüden“ Putin auf die Titelseite klatschen, als eine bedeutendere Information aus den Cables. Was sollte Wikileaks denn dagegen tun? Alle Informationen zurückhalten, die es für unwichtig hält und die die Gefahr bergen, zur Titelseite zu werden?
Dazu sollte vielleicht auch etwas Prinzipielles über Neuigkeitswert gesagt werden. Der besteht nicht erst dann, wenn etwas aufgedeckt ist, was vorher noch niemand vermutet hat. Auch die Bestätigung von Dingen, die „eh klar“ erscheinen, ist etwas Neues. Die Cables belegen einiges (oder untermauern zumindest entscheidend), was man bisher vermutet hat. Dass mancher Sachverhalt nun nicht mehr oder nur wesentlich schwieriger dementiert werden kann – das ist bereits Neuigkeitswert. Und nicht zu unterschätzen ist auch ein anderer Wert: Dass die Veröffentlichung nicht nur „Neues“ enthüllt, sondern auch zeigt, wie die USA intern kommunizieren und die Welt sehen.
Die Affäre beweist auch den Wert von Qualitätsjournalismus. Wer die Berichterstattung der New York Times oder des Guardians zu Cablegate verfolgt, bekommt ein völlig anderes Bild von der Situation, als jemand der bei deutschsprachigen oder überhaupt den meisten anderen Medien mitliest. Gewiss, auch dort findet man die Spaßstories, doch darüber hinaus prüfen, selektieren, kommentieren und analysieren Spitzenmedien das Material und erfüllen damit unverzichtbare Funktionen von Journalismus – auch in Zeiten von Wikileaks.
Am Ende noch einmal zurück zum Vorwurf, dass hier Tratsch und Lästerlust über den Wert der Aufdeckung siegen. Der ist ja noch nicht einmal besonders logisch. Oder denkt jemand, Staaten (nicht nur die USA) betreiben ein solches Diplomatennetzwerk, um die eigenen Verantwortlichen mit spaßigen Geschichten zu unterhalten?