In keinem anderen Land beantragen so viele Menschen eine Invaliditätspension wie in Österreich: Laut ÖVP laufen 30 Prozent aller Pensionen unter dem Titel „Berufsunfähigkeit“ – davon würden 40 Prozent mit psychischen Erkrankungen begründet (das macht 12% aller Pensionen). Da stellen sich mehrere Fragen: Gibt es hierzulande so viele SchmarotzerInnen? Sind die anderen Länder weniger um ihre BürgerInnen bemüht? Gibt es in Österreich spezifische kulturelle Probleme, dass jede achte Pension wegen psychischer Probleme verfrüht genommen werden darf? Das heißt: Diese Fragen würden sich stellen, denn in unserer politischen Landschaft wird nur die erste gestellt und ohne jede Grundlage, jedes Nachdenken und jede Diskussion auch gleich bejaht.

Die Gesellschaft lebt in „spätrömischer Dekadenz“, hört man oft. Dieser Bezug auf veraltete historische Ansichten zum Niedergang Roms meint, die Gesellschaft lebe faul und naiv über ihren Verhältnissen und stehe unmittelbar vor dem Kollaps. Kurz: Alles sei schlechter als früher und deshalb dem Untergang geweiht. Aus diesem konservativen Narrativ speist sich die libertäre Bewegung, die zum Beispiel im Sozialstaat nicht den Schutz unserer friedlichen Gesellschaft, sondern ihr Übel sieht, weil er die angeblich Faulen erhält und die angeblich Fleißigen zur Solidarität verpflichtet und runterzieht.

Diese Bewegung tritt in Österreich kaum offen und meist nicht einmal in konsequenter Form auf. Aber sie wirkt mit ihrer Deutungsmacht auch in dieses Land herein. Sie fällte gerade dort auf fruchtbaren Boden, wo der Sozialstaat (der angeblich den Faulen dient und die Fleißigen bestraft und begrenzt) ohnehin nicht besonders beliebt ist. Rechte und Konservative sehen in seinen LeistungsbezieherInnen die Bedrohung ihres Wohlstands. Diese Leistungen zu beantragen ist Bürger- manchmal sogar Menschenrecht und abgelehnt zu werden eine logische Möglichkeit. Für die Libertären und ihre geistig Kompatiblen ist ein abgelehnter Antrag aber gleichzusetzen mit versuchtem Missbrauch.

Die Drohung

Und so kommt es, dass für die ÖVP – die in Österreich ja zugleich das rechte FDP-Becken mitbedient – Karlheinz Kopf im Moment über die Invaliditätspensionen redet. „Ich will nicht von Missbrauch sprechen“, sagt der (und spricht damit natürlich über nichts anderes als den Missbrauch). Aber weil „sich diese Zahl in den letzten zehn Jahren massiv erhöht hat“, muss da ja was faul sein.

Kopf droht: „Die Frage ist, ob von solchen Leuten nicht der Führerschein, der Jagdschein oder der Waffenschein überprüft werden sollte“. Soll heißen: Wer künftig einen Antrag auf eine psychisch begründete Frühpension stellt, muss damit rechnen, Befugnisse in der Gesellschaft zu verlieren: zum Beispiel das Autofahren. Kopf will damit eine abschreckende Hürde setzen. Sein Geistesbruder Sebastian Kurz will gar einen „Aufschrei der Jungen“ fabrizieren. Natürlich ergibt das alles nur Sinn, wenn man über nichts anderes als Missbrauchsbekämpfung nachdenkt und spricht. Weil ich Kurz und Kopf nicht unterstellen will, dass sie Bedürftige schikanieren wollen, muss sich für sie dieses Phänomen also vor allem darüber erklären. Nur so ist das auch verständlich und logisch.

Blöd, dass es die Invaliditätspension für psychisch kranke Arbeitsunfähige aus einem Grund gibt: Weil es psychisch kranke Arbeitsunfähige gibt. Kopf blendet mit seinem Vorstoß völlig aus. Er sieht nur den Missbrauch und den will er erschweren.

Die Schikane

Aber während tatsächliche SchmarotzerInnen sich die neue Hürde ansehen und sie wie jede andere Regelung austricksen, ist sie für die tatsächlich Bedürftigen hart. Diese Menschen sind oft beschämt über ihre Schwäche, müssen sich diese erst eingestehen und sich zum Amtsweg durchringen. Sie müssen im Alltag gesellschaftliche Tabus überwinden und sehen sich mit Ignoranz, Ausgrenzung und Unwissenheit konfrontiert. Es gehört viel Kraft und Mut dazu, sich als Kranker all dem zu stellen und eigentlich sollte man alles tun, um diesen Menschen den Zugang zu Hilfe zu erleichtern. Kopf macht das Gegenteil, droht ihnen nun zusätzlich. Schon die Drohung hat ihre Wirkung. Gerade die, die das System nicht austricksen wollen, sondern ohnehin nur schweren Herzens ihre Ansprüche anmelden, informieren sich meist weniger und sind schneller von Drohungen und Hürden abgeschreckt.

Wer in Österreich schon einmal etwas von einer Behörde wollte, weiß man sich dort nicht wie ein Rechteinhaber sondern zum Bittsteller degradiert fühlt. Grausam und stur brechen unsere Bürkoratie und ihre Paragraphenkomplizen alle Regeln der Vernunft. Stellt euch vor, wenn ihr diese Schikane mit einer psychischen Krankheit bewältigen müsst – etwa einer Depression oder einem Burnout-Syndrom. Denkt euch noch politischen Druck auf die Beamten dazu, bei genau eurer Sozialleistung noch das Alzerl strenger zu sein – und die Drohung, die Herr Kopf den Staat sprechen lassen möchte: Dass ihr, wenn ihr Recht bekommt, künftig vielleicht nicht mehr so einfach einkaufen, eure Enkelkinder besuchen, zum Tratsch ins Kaffeehaus oder zur Behandlung beim Psychotherapeuten fahren könnt.

Ich schlage vor, wir stellen uns vorher – zur Sicherheit – einen Moment lang die Frage, ob der Anstieg der Anträge tatsächlich so viel mit dem Missbrauch zu tun hat. Könnte ja sein, dass einfach mehr Menschen den Antrag zu stellen wagen, weil man früher über psychische Probleme noch weniger reden konnte. Oder dass der erhöhte wirtschaftliche Druck mehr Leute über ihre psychischen Grenzen treibt. Oder dass irgendetwas anderes los ist. Nennt mich pedantisch, aber ich würde das gerne wissen, bevor ich Kranke mit neuen Schikanen belästige.

PS: Schon jetzt wird nur ein Drittel der Anträge auf Invaliditätspension wegen psychischer Erkrankung anerkannt. Die Kriterien dürften also bereits nicht allzu durchlässig sein.

Fotocredits: Susan NYC, CC2.0 BY-NC-SA

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