Julian Assange wurde heute festgenommen nachdem er sich freiwillig der Polizei stellte. Dadurch erreicht das Drama um den WikiLeaks-Mitbegründer seinen vorläufigen Höhepunkt. Es bleibt zu hoffen, dass seine Behandlung im britischen Polizeigewahrsam, eine Auslieferung an Schweden und eine mögliche Anklage fair und nach rechtsstaatlich einwandfreien Normen erfolgen. Denn es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, wenn der Westen einen chinesischen Dissidenten mit dem Friedensnobelpreis ehrt und gleichauf einen westlichen Dissidenten ein faires Verfahren ohne Ansehen der Person verweigern würde. Was Assange zur Last gelegt wird – der Terminus „Condomgate“ drängt sich hierbei auf – fasst der Schweizer Tages-Anzeiger zusammen. Doch was ist mit WikiLeaks?
Globale Transparenz
Vorausschicken will ich, dass die Veröffentlichungen durch WikiLeaks ein Schritt zu mehr globaler Transparenz sein können. Meines Wissens wurde gegen WikiLeaks selbst noch keine rechtsstaatlich einwandfreie Anklage erhoben. Somit ist es auch befremdlich, wenn WikiLeaks in einer internationalen Kampagne (ich denke, man kann sie getrost als solche bezeichnen) massivst in der Tätigkeit behindert wird.
WikiLeaks unter Beschuss
Da wäre etwa die Verbannung von WikiLeaks durch Amazon von seinen Servern. Oder die Sperre des WikiLeaks-Kontos durch PayPal. Oder die Auflösung des WikiLeaks-Konto bei der Schweizer Postfinance aufgrund eines fehlenden Wohnsitzes von Assange in der Schweiz und des „sittlichen Empfindens“. Wann war ein fehlendes Domizil in der Schweiz und das „sittliche Empfinden“ schon jemals für eine Schweizer Bank ein Grund zur Auflösung eines Kontos und müssen jetzt auch sämtliche grauslichen Potentaten dieser Welt um ihre sorgsam bei den Eidgenossen angelegten Konten fürchten?
Zudem gibt es natürlich noch den politischen Druck, der einer Verfolgung von Ketzern durch die Inquisition gleicht und wieder zu einem Verlust an Freiheit in der westlichen Welt führen kann. Auch werden Zensurvorwürfe laut. Alles Maßnahmen, die gezielt gegen eine Organisation geführt werden, gegen die bis dato laut meines Wissens keine rechtsstaatlich einwandfreie Anklage erhoben wurde.
Was habt ihr seit 1969 gemacht?
Gewiß, WikiLeaks agiert international und nützt rechtliche Grauzonen aus. Kann man dies WikiLeaks vorwerfen? Nein, denn es ist die Aufgabe demokratisch gewählter Vertreter der jeweiligen Staaten (oder deren Repräsentanten in internationalen Organisationen) für ein ausgewogenes und faires Rechtssystem im Einklang mit den universalen Menschenrechten zu sorgen. Das Internet bietet Möglichkeiten, für die die meisten Rechtssysteme nur wenig gewappnet sind – was man natürlich auch positiv sehen kann. Ein Vorläufer des Internet, das ARPANET, startete 1969.
Man möchte meinen, dass genügend Zeit zur Verfügung gestanden wäre um auf diese technischen Entwicklungen zu reagieren. Dies wurde jedoch verabsäumt was wiederum nicht WikiLeaks anzulasten ist. Stattdessen ist, so fürchte ich, spätestens in Folge von Cablegate mit einer unausgewogenen Anlaßgesetzgebung zu rechnen, welche Sicherheit wie so oft unverhältmäßig stark gegenüber Freiheiten (wie z. B. der Meinungsfreiheit) betont.
Assanges Verdienst: Öffentlichkeit
WikiLeaks ist mehr als Julian Assange. Assange spielte spätestens seit Beginn der Cablegate-Veröffentlichungen die Rolle des Prellbocks. Ob er WikiLeaks damit einen Gefallen getan hat oder ob die Plattform dadurch Schaden nahm kann ich nicht klar beurteilen. Ich tendiere jedoch zu Ersterem, es wurde sowohl ein großes Maß an Öffentlichkeit als auch Solidarität geschaffen (etwa hier oder hier). Dies wäre ohne den Krimi um Assange kaum möglich gewesen.
Bis jetzt konzentrierte sich das Interesse und die offizielle Empörung stark auf Julian Assange. Nun wird WikiLeaks zeigen müssen, dass die Plattform auch ohne ihren Mitbegründer nicht zahnlos ist. Der „Gegner“ ist nun (oberflächlich) nicht nur mehr ein 39-jähriger Australier, sondern eine Organisation die von Netzaktivisten weltweit unterstützt wird. Im 21. Jahrhundert ist es eben nicht mehr so einfach, einen „Gegner“ klar zu identifizieren und zu bekämpfen. Diesen Vorteil wird WikiLeaks nutzen und diese Erkenntnis werden vor allem die USA lernen müssen. Wenn der österreichische Grüne Peter Pilz meint, dass WikiLeaks zum Internet-Vietnam für die USA wird, so wird er damit laut meiner Einschätzung recht behalten. Die nächste Zeit wird beweisen, ob die Überschrift dieses Beitrags stimmt und WikiLeaks nicht „nur“ Assange ist.
Die Welt bleibt gleich, sie kann sich ändern
Die Veröffentlichungen von WikiLeaks werden kurzfristig nicht die Welt und ihre Strukturen in den Grundfesten erschüttern. Aber sie können unsere Sicht auf unsere Welt ändern. Wenn dies erreicht wird und die Bürgerinnen und Bürger aufgrund der Veröffentlichungen das Bedürfnis nach Transparenz verstärkt (oder zumindest etwas mehr) verspüren und einfordern, so wäre dies eine Entwicklung in Richtung aufgeklärter und demokratischer Gesellschaften im 21. Jahrhundert. Systemkrisen, sinnentleerte Kriege und noch sinnloseres Elend könnte im 21. Jahrhundert (zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit) vermieden werden. So utopisch ist das gar nicht.
PS.: Da im Krimi um Assange Kondome eine bedeutende Rolle spielen sei an dieser Stelle noch einmal auf unser Service für Katholiken verwiesen.
Foto: Fräulein Schiller, CC2.0-BY-NC-ND