Vor kurzem hat Jon Stewart – in den USA und darüber hinaus bekannt für seine satirische Aufbereitung von Nachrichten im Format der „Daily Show“ – zu einer „Rally to Restore Sanity„, also einer Demonstration zur Wiederherstellung der Vernunft aufgerufen. Das Ganze soll am 30. Oktober in Washington stattfinden, ich möchte mich hiermit im übertragenen Sinne dieser Forderung anschließen und zwar keine Demo ankündigen, aber wenigstens zur Wiederherstellung der Vernunft in hiesigen Breitengraden aufrufen.

Es geht darum, schlicht und einfach daran zu erinnern, sich auf das zu besinnen, was vor einigen Jahrhunderten im Rahmen der Aufklärung mühsam erkämpft wurde und was aktuell mehr denn je durch diverseste Demagogen, Selbstdarstellerinnen, Faktenverdreher oder Agitatorinnen verwässert und ausgehöhlt wird. Die Verwendung der menschlichen Vernunft, die Pflege eines zivilisierten Dialogs, unaufgerechte sachliche Berichterstattung, die Anwendung wissenschaftlicher Grundsätze usw. usf.

Natürlich kann man einwenden, dass sich diese Tendenz bereits seit einige Jahren hierzulande und in den anderen westlichen Demokratien ablesen lässt, aber erst jüngst gab es wieder einmal ein paar Anlassfälle, die mir persönlich die Haare zu Berge stehen haben lassen und mich dazu bewogen haben, gerade jetzt dazu Stellung zu beziehen. Immerhin, besser spät als gar nicht.

Vom Forenmystiker zum Unbildungsfernsehen

Beginnen möchte ich mit einem aktuellen Beispiel aus diesem Forum. Vor zwei Wochen habe ich meine Kolumne zum Thema „Meinungsfreiheit“ hier veröffentlicht, der Diskurs im Kommentarforum, der sich bis dato immer sehr sachlich und informativ abgespielt hat und auch für mich persönlich sehr bereichernd war (danke an die Postercommunity!), begann irgendwann in eine Debatte in Sachen „Wissenschaft ist auch oft Esoterik“ abzudriften. (nachzulesen hier). Fragen Sie mich nicht, wie man von der Meinungsfreiheit auf Esoterik kommt, aber herausstechend ist die Tatsache, dass immer öfter mit dem Argument Wissenschaft wäre ideologische Dogmatik gearbeitet wird.

Dieser Einwand ist schlicht und einfach falsch – dazu aber weiter unten.

Am Anfang war die Manipulation

Dass sich die Tendenz wissenschaftliche Argumentation als dogmatische Leerformel anzugreifen nicht nur in Foren ausbreitet, sondern mittlerweile auch „Dokumentationen“ in diesem Stil gedreht werden, die dann auch noch mit dem Prädikat „Besonders wertvoll“ ausgezeichnet werden und sich hernach als Schulfilm u.A. für das Fach „Physik“ anbiedern, ist schlicht und einfach skandalös.

Aktueller Fall ist die manipulative Pseudodokumentation über das Nicht-Phänomen Lichtfasten. Die fundierten Einwände, dass es sich dabei bestenfalls um Unterhaltung, aber nie und nimmer um eine sachliche Dokumentation handelt sind zahlreich und kommen immer häufiger von der Bloggercommunity (u.A. von Niko Alm oder Ulrich Berger), größere Medien wie derstandard.at griffen das Thema erst relativ spät auf.

Ich gehe davon aus, dass es noch keine Stellungnahme aus dem Unterrichtsministerium zur Verwendung dieses Films in österreichischen Schulen gibt.

Bildungsauftrag auf österreichisch

Bei wem jetzt noch nicht die Alarmglocken läuten, es gibt noch genügend Entwicklungen, die zum innerlichen Zusammenzucken taugen.

Bestes Beispiel: der österreichischen Rundfunk. Dort hat man zwar einen Bildungsauftrag zu erfüllen, sieht sich dadurch aber nicht gehindert oben genannten Film mitzuproduzieren, man achtet auch sonst nicht so genau auf eine sachliche Darstellung der Dinge. So beschloss man zum 9. Jahrestag von 9/11, also des Anschlags auf das World Trade Center, eine Dokumentation über eine krause Verschwörungstheorie zu senden, hernach erging man sich auch noch in den jeweiligen Diskussionsformaten darin, diese Thesen ernsthaft zu untersuchen. Thematisiert wurde das ganze wiederum von einem Blogger.

Das ZDF, ganz nebenbei bemerkt, brachte damals jene Dokumentation, die die Verschwörungsszenarien, die den Anschlag als „inside job“ skizzieren, peinlich genau zer- und widerlegte. Bildungsfernsehen also, bloß in Deutschland. Nicht in Österreich.

Es bleibt also mittlerweile nicht mehr bei kleinen Forentrollen, die sachliche Diskussionen mit Argumenten wie „das hat die Physik bloß noch nicht bewiesen, aber das heißt nicht, dass es das nicht gibt“ blockieren, das Phänomen, der Wissenschaft Dogmatik und Starrsinn vorzuwerfen, bzw. Information, die nicht auf sachlicher Basis recherchiert wurde, als Wissenschaft zu verkaufen, breitet sich mittlerweile bis in den staatlichen Rundfunk aus und wird möglichweise bald Unterrichtsmittel für österreichische Schülerinnen und Schüler. Der ORF hat Religion und Wissenschaft neuerlich in einer Abteilung zusammengefasst..

Glauben heißt nichts wissen

Ich werde jetzt keine Brandrede auf die Toleranz der Wissenschaft halten, dazu fehlt hier der Platz, aber für alle, die der wissenschaftlichen Methodik und ihrer grenzenlosen Offenheit für Debatten Zensur und Starrsinn in Bezug auf „nicht erforschte Phänomene“ vorwerfen, sei hier ein für alle mal Folgendes festgehalten: die Wissenschaft verschließt sich rein gar nichts.

Theorien dürfen aufgestellt werden, egal wie absurd sie klingen. Der klitzekleine Unterschied zum Glauben ist jedoch der, dass sie auch einer Testung standhalten müssen. Tun sie das nicht, kann man, so man will, bis zum St. Nimmerleinstag fortfahren, um seinen Beweis zu finden, niemand wird einem das verbieten. Bloß wird die Theorie solange nicht als wissenschaftlich anerkannt, solange sie nicht den strengen Anforderungen im kontrollierten Experiment standhält und sich der Test auch wiederholen lässt.

Esoterikanhängern empfehle ich diesbezüglich die Sichtung dieser Youtubeclips (es gibt noch unzählige weitere), ganz nebenbei bemerkt kann man sich für den Beweis diversester ungeklärter Phänomene noch immer  1 Million Dollar bei der von James Randi ins Leben gerufenen Stiftung abholen. Es lohnt sich übrigens den kurzen Blogeintrag dort zum Thema Skeptizismus durchzulesen.

Wider die Unsachlichkeit

Ein weiteres Phänomen, welches die Vernunft in unserer Gesellschaft bald zur aussterbenden Geisteshaltung machen könnte, ist die Tatsache, dass auch Qualitätsmedien zunehmend auf den Effekt der Marktschreierei setzen.

Ein hervorragendes Beispiel dafür ist der vergangene Woche im Standard veröffentliche Vorschlag eines Politologen namens Peter Hajek, das Wahlrecht der Pensionisten 10 Jahre nach Pensionsantritt zu streichen. Der Grund: Bald würden die Pensionisten ein Drittel (!) aller Wahlberechtigten stellen und, so Hajek, „das ist wirklich eine Gefahr“.

Stellen Sie sich nur vor, Frauen bilden in etwa die Hälfte (!) der Wahlberechtigten, man sollte ihnen das Wahlrecht entziehen, schließlich ist eine derart homogene Wählergruppe nichts anderes als eine Gefahr für die Demokratie!

Unabhängig von der Demokratiefeindlichkeit der Forderung von Herrn Hajek, stellt sich mir die Frage, warum man derartiges in ein Medium, das sich selbst zu den Qualitätsmedien zählt, überhaupt einbringt. Ich vermute es hat mit Publicity, mit dem Faktor Aufregung zu tun. Wenn man schließlich am Boulevard schon hohe Wellen mit allerlei dummen Schlagzeilen macht, muss man sich als qualitativ hochwertiges Medium doch irgendwie zur Wehr setzen, nicht wahr? Da nimmt man dann einen Politologen, der offenbar selbst Aufmerksamkeit braucht, verpackt eine haarsträubende Forderung in einen „Vorschlag“ und raus damit.

Der österreichische Zeitungsmarkt ist bereits jetzt von niveaulosen Boulevardblättern überschwemmt, ich würde mir also insbesondere von den Qualitätszeitungen wünschen, dass sie sich als Bollwerk vor diese Aushöhlung der Seriösität stellen und sich nicht dazu verleiten lassen, nur um eine Debatte zu stimulieren, auf Marktschreier hereinzufallen, oder gar selbst diese Rolle zu übernehmen.

Und jetzt bitte beruhigen wir uns alle wieder, ok?

Die Hysterie und das Krawallmachen, die sich durch unsere gesamte Gesellschaft ziehen, sollten sich doch langsam wieder legen. In diesem Sinne fordere ich, genauso wie Jon Stewart bei seinen Landsleuten in den USA, auch für Österreich eine Rückbesinnung auf die Vernunft. Oder ganz einfach: Sapere aude!

Susanne, 29. September 2010

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