Noch bevor am Freitag in Oslo klar war, ob die Explosion in der Innenstadt eine Gasexplosion oder ein Terroranschlag war, fiel auf diversen Nachrichtenstationen bereits unzählige Male das Schlagwort „Al Qaida“. Auf CNN und in der BBC waren dutzende dahin tendierende Terrorexperten am Wort (von deutschsprachigen Medien fangen wir hier gleich gar nicht erst an) und in Onlineforen jubelten nicht nur Jihadisten über die westlichen Toten sondern geiferten auch bereits die Rechtsextremen über die verabscheuten Moslems.

Ich habe gestern nach Bekanntwerden des ersten Anschlages einen „Live-Ticker“ auf Facebook gestartet, wo ich nur über das berichten wollte, was mir gesichert schien. Im Laufe des gesamten Nachmittags und Abends gelang es mir, 30 Updates zu posten – viele davon waren redundant, andere beinhalteten auch nur Hinweise auf unwichtige Details, wie den Explosionsradius oder frühe Bodycounts. Obwohl man als interessierter Medienkonsument mit Analysen, Videos und Bildern zugedröhnt wurde, war die tatsächliche Nachrichtenlage also extrem dünn. Stundenlang wurde selbst über ganz grundlegende Fakten gerätselt: Gab es eine oder zwei Explosionen?

Armes Fernsehen

Es muss also schon ein harter Job sein, für das Nachrichtenfernsehen zu arbeiten. Wann immer auf der Welt etwas Schlimmes passiert, muss man nicht nur Informationen sammeln, sondern auch Bildmaterial finden um es zu illustrieren. Eine lesende Nachrichtensprecherin ist kein aufrechterhaltbares Programm. Und wenn man diese Aufgabe schafft, hat man immer noch 59 Sendeminuten pro Stunde, in denen nichts neues gezeigt werden kann. Den „Mut zur Lücke„, wie Karim El-Gawhary das fordert (wobei ich es nicht auf den Qualitätsjournalismus beschränken würde), erlaubt sich im Prinzip niemand.

Und so durften – selbst als die Anschläge als gezielt gegen Regierung und Sozialdemokraten erkennbar waren, und von zumindest einem 1,90 Meter großen blonden Angreifer die Rede war – immer noch diverse Tunnelblick-Terrorexperten ihre Schnellschuss-Al Qaida-Theorien verbreiten. Diese können ja schon aus Zeitgründen auf nichts anderem als purem Bauchgefühl basieren. Mit diesen Experten kann man viele Minuten füllen.

Betriebsblinde Experten

Diese Theorien sind ja mittlerweile so umfassend, dass sich eh alles damit vereinbaren lässt. Anschläge auf große Symbole des Westens? Ein Erfolg für die Al Qaida, die unsere Gesellschaften hasst. Anschläge auf die Regierungen? Die Al Qaida mag deren Nahostpolitik nicht. Anschläge auf Infrastruktur? Die Al Qaida mag unseren Lifestyle nicht und will uns verängstigen. Anschläge mit heftigen Bomben? Das kann nur die Al Qaida bewältigen. Anschläge mit Handfeuerwaffen? Die neue Strategie der Al Qaida. Anschläge auf Zeltlager von norwegischen Jungsozialdemokraten? Nur weil die keine aggressive Außenpolitik wollen, sind sie vor der Al Qaida auch nicht sicher. Anschläge von blonden Hünen? Die Al Qaida rekrutiert mittlerweile eh alle.

Es geht einfach alles. Dass Leute, die sich professionell nur mit so etwas beschäftigen, dann auch überall das passende Muster erkennen, ist keineswegs überraschend.

Nachher ist es einfach

Es klingt und ist im Nachhinein einfach, das zu sagen. Aber spätestens als die Verbindung zwischen der Schießerei und der Bombenexplosion klar wurde, hätten Forscher und Experten aber auch erfahrene Journalisten die Distanz zur Materie haben müssen, um sich zumindest an die Anschläge von Oklahoma City zu erinnern. Das gehört zur Expertise dazu, dass man sich Möglichkeiten offen hält, auch wenn man vielleicht Gründe hat, etwas Bestimmtes zu ahnen.

Mit dem Ausbleiben dieser Distanz in der Berichterstattung der Livemedien verselbstständigt sich etwas. Weil natürlich auch alle anderen Medien (und auch die Protagonisten der sozialen Medien – also jeder) am Bildschirm von BBC, CNN und Al Jazeera hängen und davon beeinflusst werden. Michi Vosatka – mein Kollege bei derStandard.at – beschreibt, wie man als diensthabender Journalist in einer Redaktion zu schnellen Urteilen gedrängt wird: „Im Journalistenalltag entzieht man sich nicht leicht solchen Mechanismen: alle melden, dass es so ist, also muss nachgezogen werden„.

Der Druck

Speed ist Trumpf. Der Sender mit den ersten Livebildern wird eingeschaltet. Der erste Livestream im Web ist jener, der sich in sozialen Netzwerken verbreitet. Wer online zu spät meldet, taucht nicht mehr auf Google News auf. Wer im Printbereich den Redaktionsschluss verpasst, hat am nächsten Tag das größte Thema nicht drinnen. Trotzdem ist manches von diesem Druck auch selbst gemacht. Es ist schlicht nicht nötig, Minuten nach einem Ereignis schone eine Prophezeiung seiner gesellschaftshistorischen Bedeutung parat zu haben. Wenn das in Ausnahmefällen möglich ist, weil die Fakten schnell klar oder besondere Einsichten vorhanden sind, schön. Aber es ist Unsinn, das als Anforderung an das aktuelle Nachrichtengeschehen zu stellen.

Eine Blankoscheck-Ausrede für einzelne JournalistInnen kann dieser Druck aber nicht sein. Kollege Vosatka belegt gleichzeitig auch, dass man sich dem entziehen kann. Dazu muss die Redaktion aber den Mut haben, sich im ungünstigsten Fall einem User-Shitstorm auszusetzen (und natürlich dürfen dort auch keine Leute sitzen, die sich mit Freude an den Vorurteilen beteiligen). Dort wo das nicht gelungen ist, müssen Strukturen überdacht werden. Und die neuen müssen gut sein, denn der Druck der Geschwindigkeit ist enorm.

Kein Lohn für das richtige Verhalten

Im aktuellen Fall, hätte niemand jene Medien gewürdigt, die ihre Aufgabe gewissenhaft erledigt haben, wenn die Al Qaida-Theorie am Schluss doch aufgegangen wäre. Viele hätten sogar wüst darüber geschimpft. Man sieht sie förmlich vor sich, die Klagen über die angebliche politische Korrektheit, mit der „das System“ dem Volk die Fakten zu verschweigen versucht. Die Entscheidung für die saubere journalistische Ethik, auf die Fakten zu warten und keine schnellen Urteile zu fällen (also auch nicht schon früh den gegenteiligen Standpunkt einnehmen und zu hoffen, dass man DAMIT richtig liegt), ist eine die viel von einzelnen JournalistInnen verlangt ist, denn sie verspricht kaum Lob und Lohn, birgt aber ein großes Risiko.

Das merkt man selbst an von kommerziellen Interessen befreiten Blogs wie diesem. Erste Gedanken zu einem Beitrag über das Thema hatte ich schon gestern, ich musste mich dazu zwingen, noch einmal darüber zu schlafen. Das ist eine manchmal schwer fallende Entscheidung für die Qualität und gegen die Reichweite. Man kann auf diese Weise (meistens) nicht mehr der Erste sein, der einen Gedanken ausdrückt. Wer nicht der Erste ist, wird auch deutlich weniger gelesen. Und wer behauptet, gar keinen Lohn – also etwa in Form von Geld, Aufmerksamkeit, Einfluss oder schlichter Anerkennung – für sein Tun zu wollen, gehört wahrscheinlich insgeheim zu einer anderen Spezies.

Und das bringt mich zu uns

„Übrigens, Ihr Rezipienten, Ihr seid auch Mitschuld. Mit Eurem ewigen Herbeisehnen des Echtzeiterlebnisses, mit Eurer Gier nach Spekulationen“ (Raphael Buchegger)

All das zu berücksichtigen, sollte davor bewahren, die MacherInnen klassischer Medien zu verurteilen und sich auf ein Podest über sie zu stellen. Auch Social Media und Mikromedien – so sehr sie mich oft auch begeistern – unterliegen denselben Mechanismen: der Belohnung von Aktualität und Emotionalisierung.

Und das liegt schlussendlich an den KonsumentInnen. Dass die ihren gewichtigen Anteil am Problem haben, kann niemand bestreiten. Deshalb ist es auch richtig, von einem Mediensystem zu sprechen, nicht von einem Medienregime.

Einzelne können den beschriebenen Reizen vielleicht widerstehen (was oft mit einer Ignoranz gegenüber ihren Vorteilen einhergeht), andere schaffen das vielleicht fallweise (meist wenn sie zufälligerweise auf der richtigen Seite liegen), die meisten beteiligen sich aber regelmäßig an diesem Kreislauf. Erst kürzlich hatten wir bei zurPolitik.com intern das etwas unmotivierende Gespräch, dass arbeitsintensive Recherchen, aufwändige Interviews oder kluge Analysen nur in Ausnahmefällen so oft geteilt und kommentiert werden, wie der flappsige Scherz oder der seltsame, geistige Aussetzer eines Kolumnisten.

Wer bessere Information will, sollte bei sich selbst anfangen, bessere Information zu konsumieren, zu verbreiten und zu belohnen.

Fotocredits: Adcuz, CC2.0 BY-NC-ND

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